Folgende Frage treibt mich persönlich seit geraumer Zeit um – und wird in ähnlicher Form auch immer wieder von TeilnehmerInnen meiner Coaching-Gruppen gestellt: Brauche ich eher Struktur oder eher Freiheit, um gut und mit Freude zu arbeiten? Anders gefragt: Gehöre ich zu den „kreativen Chaoten“ oder den strukturierten Arbeitern – wie Beraterin Cordula Nussbaum es formuliert?
In meinen Schreibkursen ist die Antwort auf diese Frage klar: Struktur fördert kreative Freiheit. Ich setze darum zeitliche Grenzen, rege zum Beispiel ein Freewriting für 10 Minuten an, einen Fokussprint für sieben, gebe 15 Minuten Zeit für ein oder zwei Elfchen und beschränke selbst längere Schreibphasen auf zwanzig bis vierzig Minuten.
Die Grenzen geben den TeilnehmerInnen – wie mir selbst auch – die Freiheit, drauflos zuschreiben, den Gedanken und Ideen freien Lauf zu lassen, denn gleich wird ja der Wecker klingeln, die Zeit ist vorbei, ich kann also nicht lange überlegen, ob und was ich denn schreiben will. Der Output ist meist enorm, der Geist wird befreit dank enger Grenzen.
Mit zeitlicher Struktur lässt sich auch die Angst vor dem Ergebnis im Zaum halten – man schreibt ja bloß eben schnell mal. Wer weiß, was daraus hätte werden können, wenn man mehr Zeit gehabt hätte. Man tröstet sich bei holprigen Formulierungen – das Überarbeiten kommt ja noch.
Und das ist gut so. Der Zensor in uns, der ewige Kritiker, ist der größte Feind unserer Kreativität. Ihn im Zaum zu halten, ist eine wieder kehrende Aufgabe.
Was aber, wenn es um das Großprojekt „Alltag gestalten“ geht, beruflich wie privat? Was funktioniert besser: Struktur oder Spielraum? Die Mischung machts natürlich – und ist wie immer das Schwierigste. Viele brauchen beides, räumt auch Cordula Nussbaum ein. Die meisten von uns sind Mischtypen, müssen also herausfinden, wie viel Struktur und wie viel Narrenfreiheit nötig ist, damit sie glücklich und gut sind bei dem, was sie tun.
Kurz bevor ich in die USA geflogen bin, hatte sich gerade folgende Lebensweisheit bewährt und war in meine persönliche Werte-Liste aufgestiegen:
Lebensweisheit #10: Struktur tut gut.
Der Grund: Ich hatte arbeitsreiche Wochen hinter mir, musste viele Projekte gleichzeitig erledigen, und um nicht den Überblick zu verlieren, gab ich mir ein strenges Korsett. Dazu nutzte ich mein Lieblingsrezept: Ich formulierte morgens drei – nicht mehr! – Aufgaben, die ich auf jeden Fall erledigte (der Rest war Kür).
Es funktionierte. Doch es hatte Folgen: Der Spaß blieb immer mehr auf der Strecke. Einige meiner Freundinnen haben sehr viel Freude daran, Listen abzuarbeiten, das Häkchen an einer Aufgabe erfüllt sie mit großem Stolz. Das treibt sie zu wahren Höchstleistungen an.
Ich aber musste mir eingestehen: die Freude an den drei Häkchen konnte mir nicht annähernd das bieten, was das Dahintreiben, die Freiheit, nach Lust und Laune zu arbeiten und zu leben, mir geben kann.
Ich musste mein neues Prinzip erweitern und schrieb auf:
1. Struktur ist gut – wenn sie nicht zum Gefängnis wird.
2. Freiheit ist gut – solange ich sie genießen kann und sie nicht in Furcht umschlägt.
Zum Beispiel in die Furcht, Pflichten zu vernachlässigen. Denn Freiheit zu haben, bedeutet für mich auch, mich von Zielen zu trennen, Deadlines zu verschieben oder bei Projekten inspirierende, dafür aber längere Wege zu gehen. Oder ganz neue Prioritäten zu setzen.
Bei einem kleinen Selbsttest stellte ich beispielsweise fest, dass mir gerade die Familie volle 10 Punkte und die Arbeit nur 8 Punkte wert sind – tatsächlich investierte ich zuletzt aber viel mehr Zeit und Energie in die Arbeit. Um wieder mehr Freude zu empfinden, musste ich die Gewichtung also verändern.
„Wie wäre es, wenn wir auch bei der Arbeit immer das machen würden, was uns am meisten Spaß macht?“ Eine ähnliche Frage stellte Coach Daniela Reiter neulich in ihrem spannenden Blog. Sie hat mich nicht mehr losgelassen.
Die Antwort wurde mir nun geschenkt:
Vor der Reise saß ich oft bereits am sieben im Schlafanzug am Schreibtisch und hielt durch, bis mein Tagesprogramm erledigt war. Jetzt dagegen fruchten Disziplinierungen nicht: Auf meine Arbeitsphasen muss ich geduldig warten, ebenso auf die Lust und die Energie, etwas zu beginnen.
Habe ich dagegen erstmal angefangen, verbringe ich die Zeit meist im Flow.
Dank Jetlag habe ich wieder begonnen, nach dem Lustprinzip zu arbeiten. Denn sonst komme ich gar nicht in Gang. Das Überraschende: Ich werde viel schneller mit allem fertig als erwartet, habe also mehr Zeit für die Familie (10 Punkte!) und selbst die unselige Pflicht wird noch erledigt.
Ist das Lustprinzip also die Lösung?
Werden Struktur und Freiheit auf Dauer eine glückliche Allianz eingehen?
Meine derzeitige Produktivität lässt mich hoffen. Meine Künsterseele steckt zwar in einem Beamtenkorsett – ich bin ein Lehrerkind-, doch ich gehe das Risiko ein, Selbstdisziplin und die Wünsche anderer nicht an erste Stelle zu setzen. Stattdessen vertraue ich darauf, dass ich zu dem komme, was wirklich wichtig ist.
Es macht gerade einfach zuviel Spaß, den eigenen Neigungen zu folgen. Wie sich meine Künsterseele dabei entwickelt, darauf bin ich gespannt.
Und Euch halte ich natürlich auf dem Laufenden …
Vor-Satz: ich gehöre zu den Menschen, die sich mit Einzelzetteln die Summe der zu erledigen Dinge schaffen. Sind zwei Zettel glücklich bewältigt, haben sich bereits drei neue dazugesellt, von den grundunerledigten Dingen ganz abgesehen. So weiß ich nur zu genau, wovon Du schreibst.
Mittlerweile suche ich zwischendrin Orte und Plätze auf, die nicht in einem Zusammenhang mit irgendeinem Zettel stehen. Tue Dinge, die noch nicht verzettelt wurden. Einfach so.
Und suche immer mehr nach einer Antwort auf meinen eigenen Grund-Satz: „wenn das Leben nur noch aus to do list besteht, ist der Ansatz verkehrt.“ RM
Nach-Satz: Meine Sehnsucht wächst also, mir Leben zu leisten, anstatt Leistung zu leben.
Auch wenn die erledigten Zettel mir Glück und Zufriedenheit, Stolz und Kraft geben.
Herzlichen Gruß
Regine