Seit Jahren versuche ich, weniger perfektionistisch zu sein. Und das am besten in perfekter Manier. Doch ich scheitere kläglich.
Als Mutter weiß ich: Perfektionismus ist Masochismus. Als Coach zitiere ich machmal Willy Brandt, der meinte: Perfektionismus sei ein deutsches Laster. Als Freundin verschicke ich Karten mit dem Spruch des Videokünstlers Nam June Paik: „When too perfect – lieber Gott böse“.
Wider besseren Wissens wohnt die Perfektion weiter in mir, wie eine ansprüchliche, feine Tante, ein Dauergast, dem ich morgens die Schuhe putze, nachmittags Tee und Kuchen serviere und Sonntags einen Braten bereite. Alle Aufgaben sind prompt, ganz und gar und gut zu erledigen. Schreckliche Vorstellung? Vor einiger Zeit habe ich den Widerstand aufgegeben und beschlossen, meine Tante willkommen zu heißen. Auch darin bin ich nicht perfekt und es war ein langer Prozess: mehrere Räumungsklagen hatten nicht gefruchtet, alle Interventionen waren an meiner Tante abgeprallt.
Das erstaunliche Ergebnis: Seit ich brav den Nachmittagstee serviere, ohne zu meckern, wird sie kooperativ. Seit wir auch schon mal ein Plätzchen teilen, scheint sie mir längst nicht mehr so unerbittlich. So wie letzte Woche, als ich den Feinschliff an einem langen Magazin-Artikel vornahm. Meine ansprüchliche Tante wusste einfach, was den Text noch besser machen würde, perfekt nahezu! Und dieses Wissen weiß ich zu schätzen. Selbst wenn ich ihren Ansprüchen nur selten genügen kann.
Mittlerweile gibt mir meine Tante auch wertvolle Tipps: Im Dezember soll meine Nichte beispielsweise den perfekten Adventskalender erhalten – ich aber schaffe es aus Zeitnot nicht, 24 perfekte Sachgeschenke zu finden, sie perfekt einzuwickeln und in den perfekten selbstgenähten Kalender zu stecken. Vernetzen! schlug meine kluge Tante vor, denn sie kennt sich aus mit ganz modernen Ansprüchen. Jetzt packen meine Schwägerin und ich demnächst gemeinsam die perfekten Päckchen ein, während wir Glühwein schlürfen und Kekse essen (was die Perfektion angenehm schmälern wird).
Perfektionismus? Ja, gerne, weil er mir zeigt, was gut und richtig wäre. Und weil ich es mir mittlerweile nett mache mit meinen Ansprüchen. Dass ich ihnen meist sehr unperfekt nachkomme, fällt meiner Tante mittlerweile kaum noch auf …