Pfingstsonntag: Eine Schreib-Freundin wünscht mir per Whatsapp, dass der „Schöngeist mich überkommen möge“. Ich schreibe zurück:
„Der kreative Geist wäre mir lieber“.
Seit Tagen starrt mich mein Laptop vorwurfsvoll an:
„Wieso schreibst Du nicht?“
„Weil mir nichts interessant genug vorkommt“,
antworte ich maulig.
Das Leben ist grad zu 99% Routine, wenn auch allerfeinste und wohltuende Routine. Daneben vermüllen Termine meinen Kalender, sie nehmen mir die Luft zum Atmen. Wie soll die Spielerin in mir da noch zum Zuge kommen?
Mein Blick gleitet vom Bildschirm zum Buch, das auf Lektüre wartet: „Es ist nie zu spät, neu anzufangen: Der Weg des Künstlers ab 60“ (Knaur MensSana). Julia Cameron stellt darin ein 12-Wochen-Programm vor, mit
vielen Schreibanregungen, die Kreativität wecken sollen, so wie in ihrem berühmten „Der Weg des Künstlers“.
Ein Blick ins Inhaltsverzeichnis zeigt: Neben den Morgenseiten und dem obligatorischen, wöchentlichen Spaziergang gibt es auch Fragen fürs Memoir-Schreiben. Jetzt hat Julia mich an der Angel …
Auch der Künstlertreff ist Teil des Programms. Das ist das wöchentliche Playdate, zu dem ich mich schon lange nicht mehr mit mir verabredet habe.
Ich organisiere Playdates meist für andere.
Dabei empfehle ich doch meinen KursteilnehmerInnen stets die Magic Potion #1 – Das regelmäßige Date mit sich selbst.
Ich fühle mich ertappt und beginne umgehend eine 30-er Liste von Dingen zu schreiben, die mir Spaß machen:
„Ausflüge, Schwimmen, Buch lesen, mit dem Hund gehen, Kuchen essen, Kuchen backen, Ausflüge, Kunst anschauen …“
Zweimal steht da Ausflüge. Ich rufe meinen Bruder an …
Pfingstmontag: Ich sitze angeschnallt neben meiner Nichte T. im Familienvan. Ziel: Serengeti-Park in Hodenhagen. Vor mir Nichte L. und meine Tochter C., ganze vorne, der brüderliche Chauffeur und seine Frau. Alle plappern. T. erzählt von der Tigergeschichte, mit der mein Bruder ihr gestern Abend Angst machen wollte.
Ich spüre, wie ich mit jedem Kilometer wohltuend in Richtung Kindheit regrediere.
Nichte L. will nicht mit auf die Dschungel-Safari gehen. Sie hat Angst, die Löwen kommen durchs Autofenster. „Panzerglas“, behauptet mein Bruder vorne hinterm Lenkrad. Wir vereinbaren einen Wettstreit: Wer den ersten Löwen sieht, kriegt ein Eis.
Im Park treffen wir eine befreundete Familie mit zwei Kindern, die mit uns in den Safari-Bus steigt. Der lustige Ranger vorne erzählt von Antilopenbabies, von weißen Tigern, weißen Löwen.
Weiß? Tatsächlich: Die Tiger sind echt weiß und gestreift und aalen sich unter den Bäumen. Die Löwen sind nicht gestreift, auch nicht weiß, sondern hellbeige und liegen faul in einem anderen Gehege, ja auch hier ist die Freiheit begrenzt.
Eine künstliche Wüste, durch die wir fahren, hat Kamele zu bieten und ein Nest mit einem brütenden Strauß auf riesigen Eiern. Für mich hat sich die Fahrt schon jetzt gelohnt.
Ich bin jetzt sechs bis acht und erlebe Daktari und Flipper gleichzeitig.
Dann sehen wir das Giraffenbaby: „Oooooooh“, raunen die Mitfahrenden. Im nächsten Areal aalt sich ein uraltes Nashorn in der Sonne. Es war schon bei der Eröffnung des Parks 1974 dabei.
Mein erwachsenes Hirn meldet sich plötzlich:
„Finde ich es nun gut, dass Wildtiere hier in Gehegen leben, dass sie à la carte essen statt zu jagen, dass sie ihre Heimat in Afrika, Asien, Amerika nie wieder sehen werden? Wie geht es ihnen bei all der Pflege?“
Allemal besser, als abgeschlachtet zu werden, sagt mein Bruder. Eine Menschenaffen-Art, die fast ausgestorben war, wird hier gerade wieder vermehrt. Und ich entscheide mich für heute, dem Serengeti-Park-Gründer zu glauben. Er sagt, es geht ihm um die Zukunft der Wildtiere.
„Es gibt echt viele Antilopen“, sagt Nichte L. gerade, „die sind echt fix: Bis zu 96 Kilometer pro Stunde schaffen die schnellsten von ihnen“.
Apropos schnell.
Neben den Wildtieren bietet der Park ein Areal mit Fahrgeschäften, und da ich mich ja gerade in der Latenz befinde, steige ich zunächst in die Kinderachterbahn. Es gibt zwei ordentliche Anstiege und unerwartet rasante Kurven. Uff. Ich kralle mich am Griff vor mir fest wie das Affenjunge dort drüben an den Bauch seiner Mutter.
Während meine 14jährige Tochter über die „langweilige Fahrt“ nur verächtlich schnaubt, bin ich bedient, als ich wieder aussteige.
Und dann das: Wir kommen zu den Speedboten, das sind protzige Schnellboote mit viel zu großen Motoren, die über das Wasser schießen wie dicke Harpunen.
Die Fahrt mit ihnen wird für mich zur eigentlichen Übung des Tages.
Außerhalb des Parks lehne ich jede motorische – und anderweitige – Kraftmeierei, Benzinverschwendung, Luftverschmutzung und das Stören von Tieren in der Natur ab. Hier jedoch ist der See künstlich, ich bin erst neun und die Versuchung groß.
Beim Schlange-Stehen kann ich mir die rasante Tour anderer Gäste durch den kleinen See mehrfach anschauen. Zwei professionelle Skipperinnen lenken die Geschosse, die Wellen schlagen hoch, die Turbo-Boote sausen hochkant durchs Wasser. Die Leute kreischen, aus Freude oder Angst.
Jetzt habe ich die Schwimmweste an, zurück geben wäre peinlich. Meine Tochter wirft mir einen prüfenden Blick zu:
Kneift meine Mutter doch noch?
Ich also rein ins Boot. Zweite Reihe, zum Glück nicht am Bug. Die Motoren heulen, das Gefährt spurtet los, schießt übers Wasser, wir kommen ins Gleiten, heben ab, unsanft schlägt der Rumpf auf die Wellen. Wieder festkrallen, es geht ab in die Kurve und ich sehe uns aufs Ufer zuschießen. Gleich donnern wir gegen die steinige Böschung, rasen gegen den Baum …
Ich kreische mit den anderen, laut und lauter. Eine wundersame Drehung in letzter Sekunde rettet uns.
Ein zweites Boot jagt Zentimeter entfernt an uns vorbei. Wir folgen ihm, jetzt fühle ich mich wie in einer Szene aus Miama Vice, wir drehen uns, schießen zurück auf den Steg zu. Wieder eine Kehrtwende, Kreischen, Fahrt aufnehmen.
Das Ganze wiederholt sich noch zweimal, dann steige ich aus.
Ich bin beglückt: Heute habe ich absichtlich gegen meine erwachsenen Gebote verstoßen. Und bereue nix. Meine Tochter und die große Nichte wollen gleich noch mal fahren – jetzt mit dem kleineren wendigeren Schnellboot, das Kapriolen macht wie ein Kreisel auf Speed, ich bin versucht, ebenfalls einzusteigen …
Ich habe meinen strengen Erwachsenen mal eben einen Kaffee trinken geschickt. Dem geht es da so gut, dass ich nun auch noch eine Show mit Artisten und Hollywood-Musik anschaue. Dort schicke ich den ewigen inneren Nörgler („Der Sound ist schlecht ausgesteuert“) fort: Er soll mit dem vernunftgeplagten Erwachsenen abhängen, während ich mich einfach an den tollen Turnern und der guten Sängerin freue. Ich klatsche ihnen zu, lächle, sie lächeln zurück. Ich höre einen neidischen Zuschauer sagen: „Bei dem Turner hat es wohl für Olympia nicht gereicht, darum muss der hier im Park sein Geld verdienen.“ Armer Zuschauer, er ist seinen inneren Nörgler wohl nicht losgeworden.
Ich schüttle mich und wähle diese Interpretation: Die Künstler freuen sich daran, dass sie hier ihr Können einem großen, fröhlichen Publikum zeigen können.
Tatsächlich verlasse ich beseelt von der Musik und dem Staunen über die Akrobaten das Zelt.
Bin ich naiv? Vielleicht. Bestimmt aber bin ich frei, mich bei Bedarf für den kindlichen Blick zu entscheiden.
Dem heilenden Geist und dem Künstlertreff sei dank.
Sollen andere doch nörgeln. Ich esse derweil mit meiner Tochter ein großes Schoko-Eis. Sie war es, die vorhin den ersten Löwen im Park gesehen hat.
Liebe Birgit,
freue mich, dass ich in Deinem Blog vorkomme 🙂
Und das Buch von Julia Cameron liegt auch gerade auf meinem Lesestapel.
Was genau meinst Du mit dem heilenden Geist?
Liebe Grüße
Beatrice
Liebe Beatrice, danke für Deine Frage. Was ist der heilende Geist? Da war ich wohl nicht „outspoken“ genug: Der heilende Geist kommt für mich nicht an Pfingsten automatisch zu mir, sondern wenn ich mich auf meine Kreativität besinne. Und die entwickelt sich etwa in Künstlertreffs, in Spielräumen, Möglichkeitsräumen. Die finden wir überall, siehe auch den neuen Beitrag: Serendipity fühlt sich ganz wunderbar an – ein bisschen, als ob der heilende Geist aktiv wäre. Liebste Sonntagsgrüße, Birgit