Gerade habe ich vor unserer Tür meine Primeln bezupft. Genauer: Ich habe die braunen Blätter und die verwelkten, transparent-bräunlichen Blüten entfernt, um der Verheißung darunter Platz zu schaffen: Knallgelbe Knospen warten auf ihren Auftritt; wenn die Sonne scheint, werden sie meinen Hauseingang in Frühlingsfarben tunken. Ein gelber, ein weißer, ein rosa Büschel werden vor dunkelgrünem Hintergrund explodieren. Ich sehe es schon vor mir! Wie superdicke Smarties werden sie auf meinem Treppengeländer ihren Auftritt haben und gute Laune verbreiten.
Ich mag keine Primeln. Das mag jetzt überraschen, da ich gerade geschildert habe, wie hingebungsvoll ich sie pflege und was sie zu leisten im Stande sind. Doch es stimmt. Primeln wirken meiner Meinung nach oft künstlich und übertrieben. Wie eine Neonreklame für simples Graubrot.
Draußen ist es dunkel, kalt, nass und sie haben nichts Besseres zu tun, als mit hochdosierter Couleur um sich zu werfen, dass die Augen schmerzen. Viele Menschen verleitet das zum Kauf. Verdrießlich gestimmt wegen oben genannter Wetterverhältnisse holen sie sich „einen Farbtupfer“ in die Wohnung – oder wie ich – vor die Wohnung; einen Tupfer, der für nur 1,40 Euro zu haben ist, wenn man Glück hat, und bis zu 6 Euro kostet, wenn man exklusivere, hochstängelige Varianten und ausgefallene Farbvariationen möchte. Ab Neujahr bevölkern sie jedes Jahr den Platz vor Supermärkten, bis im Frühjahr echte Blumen ihren rechtmäßigen Platz einnehmen.
Keine Regel ohne Ausnahme. Während ich Primeln im Allgemeinen wegen ihrer Attitüde nicht mag, liebe ich seit dem vergangenen Jahr jene vereinzelten Exemplare, die ich mir kaufe. Ich bilde mir ein, sie seien etwas Besonderes, ich könne sie quasi verwandeln und aus einer Pflanze, die so natürlich ist wie ein Hühnchen vegan, ein nachhaltiges Gewächs machen, das mir ein Vorbild ist für ein Leben mit immer knapperen Ressourcen.
Dass Primeln so wandlungsfähig sind, haben mir meine drei normal-stängeligen Primeln mit der Farbvariante Palomino (Violettschattierungen von weiß bis dunkellila) im Jahr 2022 bewiesen. Im Januar letzten Jahres beim Supermarkt um die Ecke gekauft, überlebten sie einen feuchten Frühling, einen trockenen Sommer, einen langen warmen Herbst und einen nassen Winter – immer blühend – bezupft und gepflegt von mir in der oben beschriebenen Technik.
Der Hammer aber war ihr Anblick nach dem sibirischen Frost im Januar 2023. Unbeirrt gebaren sie weiter ihre kleinen lila Blüten und nicht nur das, sie schickten sich an, weitere zu produzieren.
Grandioses Durchhalten
Für diese Jahresleistung haben Primeln von mir heute den Titel „Performance Blumen“ erhalten. Und für ihr grandioses Durchhaltevermögen, ihren Einsatz bei widrigen Wetterbedingungen, noch dazu in winzigem Topf und ohne Dünger, habe ich einen riesen Respekt. Sie sind resilient im besten Sinne, außerdem extrem leistungswillig, farbecht, und dabei anspruchslos. Sie sind für mich Glanzlichter aus einer Zeit, in der Konsum und schnelles Wachstum Trumpf waren und in der die Natur, bzw. das, was von ihr übrig ist, in kleine Töpfe verbannt wurde.
Ich werde auch dieses Jahr meine Primeln hegen und pflegen und mich an ihnen freuen. Auch ich bin nicht frei vom Glauben an Performance, Leistung und Anspruchslosigkeit. Doch ich lerne und versuche mich zu verwandeln wie meine Primeln. Sie erinnern mich jeden Tag daran, dass wir alle Geschöpfe und Kinder unserer Zeit sind, die sich wandeln können, die wachsen können trotz widriger Bedingungen, die ihre Ressourcen weise gebrauchen und anderen manchmal einen Lichtblick schenken.
Wie fast immer – ein Schreibtipp für dich:
Wenn du nun ins Grübeln gekommen bist, welche Pflanze es dir besonders angetan hat, dann lade ich dich jetzt ein über sie zu schreiben. Vielleicht magst du eine Ode, ein Lobgedicht, auf sie verfassen? Oder einen Brief schreiben, in dem du ihr dankst – oder sie mal fragst, was sie braucht? Ein Brief an meine Hortensien ist überfällig, fällt mir gerade auf. Mit ihnen verbindet mich schon immer eine tiefe Zuneigung, doch sie blaublühend am Leben zu halten, gelingt mir selten. Tja, dann schreib mich mal meinen Brief an meine Hortensien und leiste Abbitte ….