Eine Buchbekanntschaft

Heute morgen muss ich über eine bereichernde Buchbekanntschaft schreiben. Eine alte Bekanntschaft, denn vor Jahren habe ich „Das zweite Leben des Herrn Roos“ von Hakan Nesser bereits einmal gelesen und genossen. Eben habe ich das Hörbuch das zweite Mal gehört und war wieder war bis zum letzten Satz gefangen.

In dem Buch geht es Ante Valdemar Roos und um Urteile, die wir treffen, die jeder Mensch trifft, um sich in der Welt zu orientieren, und die oft nichts mit der Wahrheit anderer Menschen zu tun haben.

Nesser transportiert dieses Thema mit der Geschichte eines Langweilers, „59 Jahre alt, …, grau, unauffällig, in zweiter Ehe mit Alice verheiratet, seit mehr als zwanzig Jahren als Ingenieur in einer Firma beschäftigt, die mittlerweile nur noch Thermoskannen herstellt. Roos ist unzufrieden mit sich, dem Leben, seiner Ehe, weiß aber keinen Ausweg. Doch eines Tages geschieht ein kleines Wunder – er gewinnt im Toto, das er seit dem Tod seines Vaters spielt. Anstatt seine Freude groß hinauszuposaunen, beginnt er ein Doppelleben in einem abgelegenen Häuschen im Wald. Dort macht er bald eine neue Bekanntschaft, die er in seinem ersten Leben so nie für möglich gehalten hätte. Roos freundet sich mit einem jungen Mädchen an, das aus einem Heim für junge Drogenabhängige ausgerissen ist und nun verzweifelt eine Zuflucht sucht. Doch schon bald stört ihr Exfreund die Idylle – und Inspektor Barbarotti hat einen Mordfall zu klären…“ (https://www.amazon.de/Das-zweite-Leben-Herrn-Roos/dp/3442751721)

Die Verfolgungsjagd, die beginnt, ist aufreibend – auch für die LeserInnen. Vor allem deshalb, weil die Ermittler ihre Hypothesen lange Zeit an einem Bild von Roos entwickeln, das ihm immer weniger entspricht: Roos, der von seiner Ehefrau als „passiv wie ein Möbelstück“ beschrieben wird, entwickelt sich zum Abenteurer, Träumer und Freigeist.

Das verdankt er der knapp zwanzigjährigen Drogensüchtigen Anna, die in seinem Waldhäuschen eine Schlafstatt findet. Auch sie ist anders, als Zeugen sie beschreiben: Keine kaltherzige Drogensüchtige, sondern eine zarte Seele, für die Roos Vatergefühle entwickelt. Derselbe Roos, der zu seinem leiblichen Sohn, den Pflegetöchtern und seiner Ehefrau keine liebevollen Beziehungen aufbauen konnte.

Anders als die Ermittler aufgrund von Aussagen vermuten, wird Roos nicht zum Gewalttäter oder zum Verführten. Den Sechzigjährigen verbindet mit Anna keine sexuelle Anziehung – sondern sie verbindet die Erfahrung, sich zum ersten Mal – in Gesellschaft des anderen – zugehörig und geliebt zu fühlen.

Das Ende des Romans verrate ich hier nicht, ich bin Hakan Nesser jedenfalls bis zum letzten Satz aufmerksam gefolgt, wollte keine Feinheit seiner klugen und schönen Beschreibungen verpassen, keine Wendung überhören. Es hat sich wieder gelohnt.

Von seinen Formulierungen können sich alle inspirieren lassen, die Lust auf vielschichtige Beschreibungen haben und kein Blutbad brauchen, um spannend unterhalten zu werden. Schreibende können außerdem erleben, wie sich unterschiedliche Geschichten zu einem spannenden Bogen verweben lassen, wie Personen charakterisiert und Perspektiven kunstvoll gewechselt werden können.

Meine Anregung: Ein Gang in die Stadtbibliothek, einen Hakan Nesser Roman aufschlagen, eine Charakterisierung finden und dann selbst schreiben – in ähnlichem Stil über eine Person Eurer Wahl!

Viel Freude und neue Perspektiven wünscht Euch

Eure Birgit

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