Im Auge des Sturms

Wangerooge, 5.12.2013, 21.30 Uhr. Draußen lärmt der Sturm, Hagel möchte die Fenster zerschlagen, aber ich sitze gemütlich auf dem Sofa meiner Freundin und zappe mich durchs Programm. Da erscheint plötzlich Herma H., eine frühere Kollegin, in einer Sondersendung und wird gerade als Küstenschutzexpertin interviewt: „Das Flut kann heute nacht bis zu drei Metern über Normal Null steigen“, sagt Herma. Ich rechne nach: ein Strandkorb ist höchstens ein Meter fünfzig hoch, wenn das Wasser also fast doppelt so hoch steigt, ist vom Strand morgen nicht mehr viel übrig. Und was ist mit meinem Spaziergang am Meer? 

Ich gebe es zu. Bis zu diesem Moment hatte ich mich auf den Sturm hier auf Wangerooge ein bisschen gefreut: Naturgewalten hautnah erleben. Im Auge des Sturms und doch sicher aufgehoben sein. Was sollte passieren: Die Insulaner verbreiten Gelassenheit, dies ist schon der zweite Sturm innerhalb weniger Wochen. Meine Freundin Regine verließ selbstverständlich wie jeden Tag das Haus, um ihrem Tagwerk nachzugehen – Sturmwarnung hin oder her. 

Allerdings gibt es Vorsichtsmaßnahmen. Die Fähren wurden eingestellt. Auch heute kann niemand per Schiff auf die Insel kommen – oder abreisen. Der Lesesaal oben auf der Promenade, wo der Wind am stärksten bläst, bleibt geschlossen. Und starke Männer des Dorfes wurden losgeschickt, um ein paar notorische Stellen im Deich mit Sandsäcken zu verstärken.

 Ich fühlte mich gut aufgehoben – wie gesagt – bis Herma aus dem Fernsehen zu mir sprach. Und der Moderator der Sondersendung versuchte, die Spannung (und seine Quote?) zu steigern: Ein Reporter berichtete von einem abgedeckten Dach. Ein anderer erinnerte an Hamburg 1962, während er trockenen Fußes auf dem Hamburger Fischmarkt stand. Es gab ein Bild von einem beschädigten Auto und von fassungslosen Schweizer Touristen am Meer, die in den Bergen offensichtlich noch nie richtig durchgepustet worden waren.

Doch je länger die Sondersendung dauerte, je schwerer fiel es mir, mich der Aufforderung, Angst zu haben, zu widersetzen. Und dann verkündete der Moderator – mit Triumph in der Stimme, wie mir schien: „Zwei Tote in Schottland. Der Sturm fordert seine ersten Opfer.“ Na, bitte, dachte ich, die Sondersendung hat sich ihre Berechtigung bewiesen. Dann dachte ich an die Familie der Opfer.

Wenig später lag ich unter dem Dach in meinem Bett und hörte den Wind wummern. Es klang, als verabreiche er göttliche Hammerschläge. So in etwa musste sich das höchste Gericht ankündigen. Jeden Moment, dachte ich, könnte das Dach über mir abheben. Und war das Meer, von dem ich etwa hundert Meter entfernt war, schon auf der Promenade angekommen und überflutete gerade den Ort? 

Dann schlief ich ein. Und ganz tief. Und so gut, wie in keiner Nacht zuvor, seit ich auf die Insel gereist war. Am Morgen weckte mich der Wind, noch immer aufgebracht. Das Dach ist an seinem Platz. Das Meer offensichtlich auch wieder. Und wenn ich, während ich dies schreibe, aus dem Fenster schaue, scheint das Weltgericht noch mal verschoben worden zu sein. 

Vielleicht hat die Natur nur mal kurz daran erinnert, wie die Hierarchie der Welt aussieht. Und wo der menschliche Platz liegt: Nicht immer ganz vorne. 

Ach, eine Todesmeldung gab es heute morgen doch noch: Nelson Mandela ist gestorben. Und sein Leben ist nun wirklich eine Sondersendung im Fernsehen wert.

 

 

 

 

 

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