Die Angst vor dem leeren Blatt oder Aller Anfang ist schön

Die Angst vor dem leeren Blatt ist meiner Erfahrung nach ein Mythos. Ein beliebter Mythos, der von vielen Schreiblehrern beschworen wird und bei Autoren Angst und Schrecken verbreiten kann.
Gut, ich gebe zu, der erste Satz benötigt besondere Sorgfalt, man muss an ihm herumfeilen, damit er zum Weiterlesen reizt. Trotzdem: Der erste Satz ist nicht wirklich das Problem.  

Das Problem mit dem Schreiben tritt lange vor dem ersten Satz auf und hat mit dem Blatt Papier oder dem leeren Bildschirm wenig zu tun. Davon bin ich überzeugt.

Mein Freund Peter vergleicht Schreibprobleme gern mit Eisbergen. Das Schreiben ist die Spitze, die weiß glänzend in die Sonne ragt. Die Hauptsache des Eisbergs aber liegt unter der Meeresoberfläche, groß und schwer und mächtig. Wenn wir unser Augenmerk auf die Spitze des Kolosses richten, auf das Produkt, auf den Text, dann übersehen wir Wesentliches. 

Zum Wesentlichen beim Schreiben gehört zum Beispiel die Erkenntnis, dass alle Schreibprojekte Phasen haben, die sich abwechseln wie Tag und Nacht, wie Ein- und Ausatmen. Da sind die Zeiten des Sammelns, der Ideen, der Vorbereitung und da sind die Zeiten des Ordnens, der ersten Formulierung, der Struktur. Später kommen Phasen der Überarbeitung, manchmal sammeln wir wieder Informationen. Die Amerikanerin Gabriele Rico sagt, Kreativität beruhe auf einem Oszillieren zwischen rechter und linker Hirnhälfte. Wenn dieser Wechsel vom analytischen zum intuitiven Teil des Gehirns klappe, flutsche auch das Schreibprojekt.

Zur ersten Phase des Schreibens gehört das Sammeln und Inspirieren lassen. Wenn diese Zeit um ist – meist ist das der Fall, wenn wenig Neues zum Thema hinzu zu kommen scheint und wir eine erste Idee für den Text haben, beginnt die Zeit des Anfangens. Und da kann in der Tat einiges schief laufen, wie der Kolumnist Martenstein in „Die Zeit“ vor einigen Monaten schrieb:

„Wenn ich schreiben muss, dann nehme ich mir vor, zu einer bestimmten Uhrzeit anzufangen. Wenn diese Zeit gekommen ist, meistens um neun oder zehn, und ich sitze nicht im Büro, beginne ich, die Küche zu putzen. Danach checke ich meine Mails. Anschließend gehe ich einkaufen und räume auf. Ich fühle mich dabei nicht gut. Ich weiß genau, dass ich diese Dinge nicht deshalb tue, weil sie unbedingt getan werden müssten. Ich mache das, um dem Schreiben aus dem Weg zu gehen. Inzwischen weiß ich, dass es für dieses Verhalten, das Verschieben, einen Fachbegriff gibt. Er heißt Prokrastination, auf Deutsch: Vermorgung. Es gibt unglaublich viel Fachliteratur darüber, weil es eine Zeiterscheinung ist. In dem Standardwerk von Eliyan M. Goldratt wird Prokrastination auch „das Studentensyndrom“ genannt. Man hat Versagensängste, kurzfristig droht ein Misserfolgserlebnis, im Falle des Gelingens aber zahlt sich der Erfolg erst mittelfristig aus. Mit diesem Widerspruch hängt es irgendwie zusammen.“

Da ist er, der Rumpf des Eisbergs: Er besteht unter anderem aus Versagensängsten, mittelfristigen Erfolgserwartungen, vergangenen oder antizipierten Misserfolgen. Schreibcoach Christian Sauer macht auch heimliche Adressaten für die Macht des unteren Eisbergs verantwortlich: Den Vater, dem wir uns schreibend beweisen wollen. Die Lehrerin, die uns attestierte: „Thema verfehlt“. Die Tante, die sagte, „Aus Dir wird mal ein toller Schriftsteller, Junge bzw. Mädchen“.

Martenstein leidet entsprechend an dieser Phase, die ich die Phase der notwenigen Umgehung bezeichne. Ich umgehe den Anfang, weil ich noch nicht bereit bin. Ich putze nicht meine Küche, sondern räume am liebsten auf. Heute morgen habe ich meinen Kleiderschrank entrümpelt. Jetzt fühle ich mich besser. Besser zumindest als es Martenstein vor dem Schreiben zu gehen scheint, auch wenn mein Text noch keinen ersten Satz hat. 

Meinen Dämonen im unteren Eisbergteil begegne ich nun in zwei Schritten. Erstens denke ich an Ernest Hemmingway. Er glaubte, dass jeder gute Text mit einem „shitty first draft“ beginne. Also erlaube ich mir einen schrecklichen ersten Entwurf und fühle mich schon viel leichter.

Dann schreibe ich ein „Mission Statement“, das sind zwei, drei Sätze darüber, was ich mit dem Text bewirken möchte und wann ich mit mir und dem Geschriebenen zufrieden bin. Die Idee zum Mission Statement verdanke ich wiederum Schreibcoach Sauer. Das Statement erinnert mich während des Schreibens daran, das ich Menschen neugierig machen möchte. Im Idealfall möchte ich sie so neugierig machen, dass sie das eine oder andere Buch zu dem dargestellten Thema lesen. Und natürlich soll der Text der Chefredakteurin des Magazins, für das ich schreibe, gefallen. So dass sie mir mein Honorar überweisen lässt.

Jetzt kommt der letzte Teil meiner Vorbereitung: Ich feiere den Anfang. „Cherish the beginning, the middle the end.“ Habe ich mal in einem Ratgeberbuch aus den USA gelesen. Das tue ich nun mit diesem Blogbeitrag. Und da ich jetzt schon so schön im Schreibfluss bin, kann es gleich noch weiter gehen. Mit meinem ersten Satz: 

Ich fand sie auf dem Dachboden, zusammengepfercht in einen Schuhkarton, zusammengebunden mit einer grauen Schnur und ich fragte mich … (Fortsetzung folgt)

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