Eben hielt ich ein Vortragsmanuskript von mir in der Hand – 20 Jahre alt – es geht um eine Methode, die ich für biografische Analysen von Interviews entwickelt hatte.
OMG – sagen meine Kinder, so alt bist Du schon? Mir dagegen ist warm ums Herz: „Ach schau, war doch spannend. Den Vortrag hatte ich schon vergessen.“ Ich umarme innerlich die Sozialforscherin Birgit, die ich in meinem Manuskript wieder finde und freue mich an dieser Phase meines Lebens. Auch sie hat mich geprägt und zu der gemacht, die ich heute bin.
Dass ich so viel Liebe, Stolz und Wohlwollen für mein jüngeres Ich empfinde, ist das Ergebnis einer langen Erinnerungsarbeit, die vor einem Jahr in eine entscheidende Phase kam und in einem Workshop gipfelte, den ich vor kurzem mit Euch erleben durfte. Weil wir alle so froh waren, endlich Platz für Neues zu schaffen, findet er bald wieder statt und heißt: Platz fürs Wesentliche schaffen – Mit neuen Journal Methoden zu mehr Freiheit im Leben.
Wir machten uns bewusst: Es gibt ganz verschiedene Arten von Ballast.
- Physischen Ballast: Gerümpel und Dinge, die zu viel sind in meiner Wohnung
- Zeitlichen Ballast: Termine und Pflichten, die mir nicht mehr entsprechen
- Emotionalen Ballast: alte Gefühle, Ressentiments, Verhaltens- und Denkmuster, ungelöste Konflikte usw.
Dinge, die wir nicht loslassen können, haben meist eine Botschaft für uns
Ich hatte schon vor Monaten mit dem scheinbar einfachsten Ballast, den Dingen und dem Gerümpel in unserem Haus begonnen und war sehr schnell auf Schwierigkeiten gestoßen: Meine Uni-Kisten mit dem Material von über zehn Jahren Forschung, Lehre, Arbeit konnte ich nicht antasten, noch nicht einmal öffnen. Auch die Erbstücke meiner Oma, Schalen und Vasen in Kobaltblau mit Goldrand, machten mich ratlos: Ich mochte sie nicht ins Regal stellen, nicht verschenken, geschweige denn wegwerfen.
Mein Mann, der mir bei meinen Bemühungen über die Schulter guckte, wurde zunehmend ungeduldig: Wir brauchten dringend den Regalplatz für Kindersachen, neue Bücher, aktuelle Projekte:
„Wirf es weg – Du brauchst davon doch nichts mehr.“
„Was war los mit mir? Warum konnte ich mich so schwer trennen?“ Mein Journal gab mir die Antwort und befreite mich aus meiner inneren Sackgasse: Es gab Integrationsarbeit zu tun.
Dabei half ein Buch, das „Clutter Clearing as a Sacred Act“ heißt. Kein rigides Aussortieren wie bei Marie Kondo und anderen ExpertInnen, sondern ein liebevolles Anerkennen und Abschied nehmen, empfiehlt meine Kollegin Carolyn Koehnline darin.
Ich erlaubte mir als erstes eine
Dilemma-Kiste, in der alle scheinbar überflüssigen Dinge landeten, mit denen ich noch nicht fertig war.
Stück für Stück betrachtete ich den scheinbaren Ballast, erinnerte mich an die Zeit, in der die Dinge in meine Leben gekommen waren. Und nahm Abschied.
Das gesamte Repertoire der Journal Methoden kam zum Einsatz bei diesem Prozess:
Ich schrieb Listen, was ich loslassen wollte und Listen, was ich noch behalten würde.
Ich schrieb Momentaufnahmen, in denen die Dinge eine Rolle gespielt hatten.
Eine Hommage an meinen Hochzeitsblazer etwa.
Ich fotografierte Kleidung und Dekostücke oder
schrieb Briefe an die Menschen, die sie mir vermacht hatten. Manche von ihnen lebten schon lange nicht mehr.
All das klebte oder schrieb ich in mein Aufräum-Journal.
Nach Monaten öffnete ich auch die Kiste mit den Vortragsordern.
Mein Mann ist jetzt sicher schon am Recyclinghof angekommen und hat die vorläufig letzte Portion meines Ballastes abgeben. Die Vortragsordner sind nicht darunter. Die behalte ich – ganz bewusst. Sie erzählen einen Teil meiner Geschichte, den ich noch ausführlicher würdigen möchte.
Viele andere Dinge, habe ich jetzt wohlwollend verabschiedet und mein Mann und ich sind aus ganz unterschiedlichen Gründen stolz und zufrieden mit dem Aufräum-Ergebnis: Es gibt neuen Platz in unserem Leben.