Kunst tut gut und Kunst hat seinen Preis. Diese Erkenntnis hat sich bei mir heute morgen – etwas widerwillig – durchgesetzt, und sie gilt nicht nur für Kunst-Liebhaber*innen, die vielleicht ein teures Gemälde erwerben. Vielmehr geht es um die kleinen Kunstwerke, die Eltern oder Familienangehörige im Laufe der Jahre von ihren Sprößlingen geschenkt bekommen.
Um 7.30 Uhr morgens fiel mein Blick als erstes auf den Schreibtisch, den ich gleich für einen Zoom-Workshop wieder besetzen wollte. Was musste ich da sehen? Rechts an der Ecke: Ein großflächiger roter Fleck, daneben dasselbe in gelb, ebenso großflächig. Und beide prangten auf meinem ganzen Stolz: dem weißen, polierten, eigens für mich angefertigten Arbeitstisch.
Langsam dämmerte es mir: Max, mein Sohn, elf Jahre, Manga und Comic-Fan, war gestern Gast in meinem Schreibzimmer. Er sollte aus einer Fabel ein Comic machen, hatte die Lehrerin gesagt. Wo geht das besser als an Mutters Kreativtisch. Max glaubt, dass er keine Tiere zeichnen kann und wollte nun Menschen mit Tiermasken entwerfen. „Eine geniale Lösung“, sagte er und war sooooo stolz.
Aber was, wenn die Lehrerin sagt, er habe die Aufgabe nicht erfüllt? „Dann sagst Du: ‚Ich habe das so gemacht, weil ich mir sicher war, Sie sind für gute künstlerische Ideen offen!'“, hatte ich ihm gestern noch geraten.
„Super“, fand mein Sohn: „Wenn sie dann nein sagt, hat sie vor der ganzen Klasse die Ehre verloren.“
Der Slang der Elfjährigen ist gewöhnungsbedürftig. Da geht es viel um „Ehre“ und „Digger“ und anderes, von dem die Erwachsenen meiner Generation keine Ahnung haben.
Von Kunst, bilde ich mir ein, habe ich eine klitzekleine Ahnung. Doch Kunst hin oder her, Max hat seine Comic-Figuren auf meinem Schreibtisch direkt NEBEN der Unterlage ausgemalt. Sie haben abgefärbt. Auf die Tischplatte.
Was sollte ich nun sagen? Ich überlegte mir eine Strafpredigt und verwarf sie wieder: Womöglich sagte Max dann: „Ich dachte Du wärst für künstlerische Projekte offen – und nicht kleinlich“. Gut, also würde ich ihm erklären, wozu Schreibtischunterlagen dienen.
Viel größer als für sein Kunstwerk war ohnehin der Preis gewesen, den ich für ein Bild meiner Tochter vor Jahren bezahlt hatte.
Es war kurz vor Weihnachten und Zeit für entsprechende Bäume gewesen. Auch für gemalte. Die unsere Tochter auf ihrer Augenhöhe (kurz über meinem Knie) auf der weißen Rauhfasertapete im Wohnzimmer anbrachte. Und da sie nicht hinaufreichen konnte, um die Spitze des Baumes zu malen, zog der prächtige Baum sich etwa 1,5 Meter horizontal an unserer frisch gestrichenen Wand entlang. Woher sie den schwarzen Edding zum Malen hatte, weiß ich bis heute nicht.
Das ist der Preis der Kunst, sage ich nur.
Den mussten im übrigen schon meine eigenen Eltern zahlen, ganz früher.
Ich war vielleicht fünf und wollte mein Maltalent entfalten – oder auch einfach nur Spaß haben. Und wählte dazu die Garage meiner Großeltern. Eine frische Wand, weiß, lockte wie eine unberührte Leinwand. Höchste Zeit für Verschönerung. Ich wählte als Motiv einen schicken Zwanzigerjahre Korbkinderwagen, wie den, den ich immer ums Haus schob. Dazu natürlich mich als Schiebende, eine Figur ohne Hals aber mit A-förmigem Kleid und großen Füßen, wie gemacht für den Fußmarsch mit dem Kinderwagen.
Dazu malte ich mit dicken schwarzen Pinselstrichen noch die Sonne, die unserer Familie immer scheinen sollte.
An dieser Stelle endet das Kunstwerk, denn dann kam mein Vater in die Garage und drohte mit einer Reihe von Strafen. Zum Glück war mein Opa in der Nähe, sah mein schuldbewusstes Gesicht und die Tränen, die sich über die Wangen schlängelten. Überschwänglich bedankte er sich bei mir für das Kunstwerk, das ich ihm gemalt hatte. Erst jetzt sei die Garage wirklich schön. Mein Vater war sprachlos, bis zum Abend, dann hielt er doch noch eine Mini-Strafpredigt: Den Preis der Kunst halt.
Ich finde, es lohnt sich, diesen Preis für Kunst zu bezahlen. Unter der Bedingung, dass es sich um gut gemeinte Werke handelt – wie die der eigenen Kinder. Alle anderen Kunstwerke und ihren Preis sollten wir ein andermal besprechen…
Eure Birgit