Zeitverschwendung?

Heute um 16.30 Uhr treffe ich mich mit einigen von Euch online im Erzähl-Salon, um Geschichten zu schreiben. Kurze Geschichten, die uns gut tun, die uns zu uns bringen und einander näher. Wir werden vorlesen und genießen, und Anregungen mitnehmen, für die Arbeit mit anderen Menschen.

Was mich angeht, freue ich mich darauf wie ein Kind. .

Geschichten zu schreiben, das mag wie Kinderkram klingen oder aber wie literarische Schwerstarbeit.

Es ist keins von beiden. Es ist vielmehr bewusste, kreative Zeitverschwendung. Es ist Spielen. Und ein zutiefst menschliches Bedürfnis, es erlaubt uns zu entspannen, zu lernen, zu verarbeiten.

Wir alle erzählen, seit wir etwa vier Jahre alt sind. Damals war unser autobiografisches Gedächtnis so weit ausgereift, dass wir Zusammenhänge zwischen gestern, heute und morgen herstellen konnten: „Gestern hat Piet mich im Kindergarten gehauen, heute habe ich sein Haustier geklaut. Schau mal Mama, ist die Klapperschlange nicht schön?“

Das klingt gar nicht nach der Birgit, die ihr kennt? Wenn es ans Erzählen geht, verändere ich mich. Steige in Parallelwelten ein, erzähle das Blaue vom Himmel herunter, starre in Abgründe und verehre Schönheiten, die die Welt noch nicht gesehen hat.

Zu erzählen ist eine menschliche Notwendigkeit. Wer erzählt, formt seine Identität. Wer erzählt, erklärt sich die Welt. Wer erzählt, lässt sich und andere verstehen, wer er oder sie ist.

Besonders unsere Selbstgeschichten – Erzählungen darüber, wie wir geworden sind, wie wir sind – sind mächtig und sie wollen mit Bedacht erzählt sein.

Der Psychologe und Forscher David Lätsch hat sich gefragt, ob erfundene Geschichten uns ebenso gut tun, wie autobiografisches Erzählen und Schreiben. Nicht, dass da manchmal ein großer Unterschied besteht.

Der Schauspieler Christian Berkel hat seine Familiengeschichte für einen Roman bewusst ergänzt und verändert, weil sie ihm so besser gefiel. Ein kluger Mann.
Teile von Geschichten zu verändern, damit wir sie veröffentlichen können, ist eine Sache.

Eine andere ist, ob wir Geschichten so umschreiben können, dass sie uns weniger belasten oder gar heilen? Seit Jahren beschäftige ich mich damit und finde immer wieder Antworten bei James W. Pennebaker, dem Entdecker des Expressiven Schreibens als Heilmethode.

Diese Methode sieht vor, dass Menschen viermal an vier aufeinanderfolgenden Tagen etwa eine Viertelstunde über ein schmerzhaftes, aufwühlendes Erlebnis schreiben. Dabei wählen sie jeden Tag einen anderen Schwerpunkt und folgen diesem Motto: „Stare right into the pain and savor the beauty“. Es stammt von einem anderen Großen der Schreibtherapie, Ira Progoff, und macht Hoffnung, darauf, dass auch aus dem tiefsten Leid irgendwann etwas Gutes entstehen kann.

Wenn ich ein traumatisches Geschehen als Teil meiner Geschichte anerkenne, als ein vielleicht sinnloses Gewalterlebnis, das dennoch zu mir gehört, habe ich einen großen ersten Schritt getan. Wenn ich dann beim Schreiben erkenne, wie dies Erlebnis alles beeinflusst hat, Menschen, meine Entwicklung, mein Leben, bin ich auf dem Weg zum dritten und vierten Schritt: Ich erkenne auch, nicht nur, positive Entwicklungen, die durch das Erlebnis angestoßen wurden.

„Meine Glückssträhne inmitten von Bitterkeit und Leid“, so betitelte eine Frau ihre Geschichte, die sie mir erzählte und die ich für sie aufschrieb. Aus dem versteckten jüdischen Kind ist nicht nur eine verwundete Frau geworden, sondern im Laufe ihres Lebens eine der weitsichtigsten, einfühlsamsten und klügsten Menschen, die ich kenne.

Ob Geschichten zu erzählen Zeitverschwendung ist? Diese Frage beantwortet ihr am Besten erst nach dem Geschichtenworkshop.

Für alle, die heute nicht teilnehmen können, habe ich diese schöne kleine Aufgabe:

Schreibt eine Liste von sechs Worten, die Euer Leben beschreiben. Ihr dürft experimentieren und mehrere Versionen formulieren. Dann schreibt Euch ein Fazit: „Wenn ich das lese, stelle ich fest …“
„Wenn ich das lese, fühle ich … „
„Wenn ich das lese, bin ich überrascht …!“

Wie lautet Eure Geschichte in Kurzform und lohnt es sich, sie einmal genauer zu betrachten?

Bis zum nächsten Mal- vielleicht mal in einem Geschichten-Workshop!

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