Die Sache mit der Dankbarkeit

Mit der Dankbarkeit ist es so: Sie ist ein mächtiger Stimmungsaufheller. Doch leider lässt sie sich nicht verordnen. Selbst wer akribisch ein Dankbarkeitstagebuch führt, schreibt ihr manchmal vergeblich hinterher.

Für mich gilt: Sie stellt sich erst ein, wenn ich still stehe.

In den USA ist Thanksgiving so ein Tag, an dem die Menschen sich Zeit nehmen könnten, stiller zu stehen und Dankbarkeit zu fühlen. Ob das immer gelingt, im Trubel des Reisens quer durchs Land, des Einkaufens, Football-Guckens und Kochens, ist die Frage.

An dieser Stelle habe ich schon fast vergessen, für welche Sache ich am Anfang dieses Blogs so dankbar war, dass ich mich zum Schreiben hingesetzt habe. Ein gutes Beispiel für die Flüchtigkeit von guten Gefühlen wie der Dankbarkeit.

20 Sekunden müssen wir positive Emotionen in uns aufrecht erhalten, um sie ein Stück weit zu verankern, sagt Deborah Ross, Journal Therapeutin und Neuro-Expertin. Gute Gefühle gleiten in uns ab wie Bratgut von einer Teflonpfanne, schreibt sie. Wir wurden halt für die Steinzeit konstruiert, in der es nützlich war, Erinnerungen an Negatives wie etwa Gefahren zu verankern, um dem immer wieder zitierten Säbelzahntiger zu entgehen.

Wenn Dankbarkeit sich heute bei mir trotz dieses anthropologischen Problems einstellt, ist sie befreiend.

Brené Brown schreibt, dass Dankbarkeit davor schützt, sich abzuwerten, in dem wir auf Nachbars neues Auto, die tolle Figur der Freundin oder das fertige Buch der Kollegin schielen. Aktionismus und Konsumstreben versiegen, wenn echte Freude und Zufriedenheit darüber einkehren, was wir bereits haben.

Selten ging es mir so gut wie in den Wochen, in denen ich der Anregung des buddhistischen Mönchs Thich Nath Hanh folgen konnte, und für meine bloße Existenz dankbar war. Fragt mich nicht, wie ich das gemacht habe. Ich war einfach jeden Morgen froh über die Möglichkeit, neue Erfahrungen zu machen, meine Kinder zu sehen, meinen Mann, den Hund. Und selbst Widrigkeiten nahm ich leichter hin. Sie waren Möglichkeiten, neugierig zu schauen, wie ich damit umgehen würde. Lächelnd oder auch nicht.

Aus tiefstem Herzen konnte ich fühlen, was für eine Gnade es ist, in der zivilisierten Welt und diesem Land zu leben, statt etwa heute in Äthiopien geboren zu werden, in Ruanda während des Genozids zu leben oder vor zwei Generationen in Nazi-Deutschland. Innerlich sprang ich vor Freude jeden Morgen an die Decke.

Ich konnte dies Gefühl nicht durchhalten, aber auch jetzt tut es mir gut, mich an diese basale Lebensfreude zu erinnern. Womöglich kehrt sie ja wieder zurück.

Was ich dafür tun kann, ist, eine Momentaufnahme zu schreiben. Das ist ein Bild mit Worten, ein kleiner Text, vielleicht bloß ein Absatz oder zwei, in denen ich mit allen Sinnen schildere, wie es war, als ich zuletzt Freude und Dankbarkeit empfunden habe. Gut ist, wenn ich dabei 20 Sekunden bei den guten Gefühlen bleiben kann.

Meine Momentaufnahme, die gleich folgt, ist nur ein Beispiel. Natürlich kann Dein Text ganz anders lauten, ein Gedicht sein, aus einzelnen Worten bestehen oder ohne Punkt und Komma verlaufen. Hauptsache, Du fühlst dabei Deine Freude oder Dankbarkeit.

Gestern erst stand ich dankbar in der Sonne am Grab meiner Mutter. Ich hatte mich auf abgestorbene Pflanzen, wilde Efeu-Wucherungen und Laubberge eingestellt, denn angeblich hatte der von uns beauftragte Grabpfleger seine Arbeit schon vor Monaten niedergelegt, ohne mich zu informieren.

Statt dessen ist das Beet sauber geharkt, blaue Hornveilchen leuchten im Mittagslicht, die kleinen adretten Büsche rahmen das Gesteck ein, das jemand liebevoll in die Mitte gelegt hat. Wer hat hier den guten Engel gespielt? Ich lache laut, denn ich habe keine Ahnung wie ich die mitgebrachten Pflänzchen, den Kranz und die kleine Tonfigur noch auf dem Grab unterbringen soll.

Da sehe ich, wie eine grauhaarige Alte mit ihrem Rollator über die Pflastersteine heranrollt: Es ist unsere alte Nachbarin, die mich bei der Pflege meiner Mutter bis zum Ende unterstützt hat. Hanne lebt! Hanne ist gesund! Erleichterung lässt meinen Atem weit und tief werden. Ich hatte mir Sorgen um sie gemacht.

Und da drüben, wer kommt da auf dem blauen Fahrrad auf uns zu? Es ist Mutters frühere Kollegin, auch sie ist auf dem Weg zum Grab. „Zu ihrem Geburtstag gab’s immer Kartoffelsalat mit Würstchen. Ach, wir hatten so viel Spaß mit Deiner Mutter“. Mittlerweile ist mein Herz ganz warm, mein Bauch auch, eine großer warmer Ozean in mir, der kann noch mehr aufnehmen.

Da kommen noch zwei Bekannte, meine erste Mathelehrerin und mein Grundschul-Direktor. Jetzt fehlt nur noch ein Kaffee-Stand mitten auf dem Friedhof. An dem von einem unbekannten Engel gepflegten Grab teilen wir schöne, dankbare, liebevolle, lustige Erinnerungen an meine Mutter.

Zu sagen, meine Mutter und ich hätten eine komplizierte Beziehung gehabt, ist untertrieben. Doch jetzt fühle ich, wie Liebe, Geborgenheit und Dankbarkeit in jede Zelle strahlen – und aus mir heraus: Ich stelle mir lächelnd vor, dass ich wie eine Weihnachtskerze leuchte.“

Jetzt dürft Ihr loslegen:

Atmet ein paarmal bewusst ein und aus und lasst vor Eurem inneren Auge eine Szene auftauchen, in der Ihr Dankbarkeit, Freude, Liebe oder ein anderes gutes Gefühl hattet. Dann beschreibt mit allen Sinnen, wie es dazu kam und wie sich die Emotionen anfühlten. Sieben Minuten sind ein guter Rahmen. Und Ihr dürft natürlich länger schreiben, wenn Ihr möchtet.

Eure Birgit

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