„Ich wünschte, wir wären verwandt“, sagte gestern meine neunjährige Tochter Carlotta zu mir und meinte damit die Familie ihrer ältesten Freundin S., zu der die Schwester D., Mutter A., und Vater S. gehören. Nicht zu vergessen die beiden scheuen Katzen, deren Namen ich nicht kenne.
„Wenn wir verwandt wären, dann hätte ich auch ein paar Eigenschaften von S.“, überlegte die quirlige Carlotta, die ihre Freundin um deren Ruhe und Besonnenheit beneidet. „Und: Wir wären immer zusammen! Du könntest mit A. Kaffee trinken, Papa quatscht mit S., und wir Kinder spielen im Garten.“
„Und wie passen wir alle in unsere Wohnung?“, überlegte ich. Carlotta schüttelte den Kopf über ihre phantasielose Mutter: „Nein, die wohnen dann natürlich nebenan. Aber wir machen alles gemeinsam.“ „Klar“, sagte ich. „Hab‘ nicht nachgedacht“.
Carlottas Vision vom Teilen hat mich gestern tief berührt. Ich hatte am Freitag mit Studierenden den Film „Memory Books“ über Ugandas HIV-infizierten Mütter und ihre ebenso oft infizierten Kinder gesehen.
Ich kannte den Film schon, aber diesmal hatte er mich mit besonderer Wucht getroffen, vor allem die Bilder, in denen Mütter zusammen mit ihren Kindern ihre Gemeinschafts-Biografie schrieben – eine Familiengeschichte, die sie speziell für ein Kind formulierten. Sie versahen sie mit Fotos und Zeichnungen, damit es etwas hatte, an dem es sich nach dem Tod der Eltern festhalten konnte: An Bilder und Geschichten aus der eigenen Babyzeit, an Märchen und Geschichten, aus dem es etwas lernen sollte, an Beschreibungen und Anekdoten über bereits verstorbene Väter, Brüder, Schwestern, Großmütter, Großväter, Onkel, Tanten. An viele, viele Tote.
Diese intensiven Begegnungen strahlten eine ruhige Macht und Kraft, aber auch tiefe Traurigkeit und Verzweiflung(?) aus.
Als der Abspann lief, war eine Mauer in mir gefallen.
Diese Mauer hilft mir im Alltag zu funktionieren, sie schützt mich vor verstörenden Eindrücken und Schreckensbildern. Die Mauer steht wie eine unsichtbare Wand zwischen mir und anderen. Sie schützt meine kleine Welt und das ist oft nötig und gut.
Und sie verstellt mir den Blick auf Menschen, die leiden, nicht nur, aber auch, weil wir in der ersten Welt auf ihre Kosten leben. Und das ist nicht gut.
Carlottas Vision vom Teilen mit unseren Nächsten ergänzt auch die Botschaft an mich, von der ich Euch im letzten Blogbeitrag berichtet habe: „Mach es mir selbst recht“.
„Mach’s anderen recht“ kann ein gutes Gebot sein.
Wir wollen nun unsere Familie um eine imaginäre Familie in Afrika erweitern und recherchieren, wie unser Beitrag am Sichersten und Sinnvollsten bei unseren neuen Verwandten ankommt. Einträge über die „Memory Books“ liefern uns Anregungen.
Insgeheim wünsche ich mir bei all dem, auch meine Mutter hätte ein „Memory Book“ mit mir geschrieben, denn sie ist bereits vor sechs Jahren gestorben. Vielleicht habe ich auch deshalb, die Geschichte ihres Todes aufgeschrieben, die zugleich die Geschichte meiner Geburt als Mutter ist. Widmen werde ich das Buch meiner Tochter.
S. und ihre Familie wird zum Leidwesen von Carlotta allerdings weiterhin in ihrem eigenen Haus wohnen. Darüber freut sich wiederum mein Hund Jackie: Sie hätte sich mit zwei Katzen in der Wohnung schwer getan. Bei aller Nächstenliebe.