Bei meiner Sammlung von guten Gründen für das Schreiben, bin ich – eine gelernte Biografieforscherin – auch auf das Erzählen gestoßen. Erzählen – ob mündlich oder schriftlich – kommt unserer narrativen Identität zugute. Narrative Identität heißt, dass Menschen sich mit Hilfe von Narrationen, von Erzählungen, entwickeln und entwerfen und das, sobald das autobiografische Gedächtnis im Alter von etwa vier Jahren ausgebildet ist.
Da gibt es persönliche Geschichten, die vor allem mit uns zu tun haben, Geschichten, die mit unserer Familie zu tun haben, mit unserer Stadt, mit unserem Land, mit der Geschichte unseres Landes. Die ganz großen, prägenden Erzählungen heißen dann Master Storys … Ihr versteht, was ich meine. Alle von uns orientieren sich an diesen Narrativen, die Werte, Sinn und Bedeutung in das Leben einzelner und von Gemeinschaften bringen.
Psychologen der Richtung „narrative Psychologie“ halten die identitätsstiftende Wirkung von Erzählen für so wichtig, dass sie Descartes zitieren und sagen: „Ich erzähle, also bin ich“.
Doch was passiert, wenn Erzählen unmöglich wird? Wer eine Trauma erleidet, kann das Erlebte nicht mehr in eine Erzählung seines Lebens einbinden. Statt dessen können starke Affekte wie etwa Angst, Panik und damit Schweißausbrüche, Herzrasen, die in der traumatischen Situation erlebt wurden, immer wieder als Flashback in den Alltag einbrechen – auch wenn die Traumen Jahre zurück liegen. Manche Forscher sagen auch, dass Traumen sich Sinn und Bedeutungsgebung widersetzen und nicht in Sprache übersetzt werden können. Sie werden daher nicht zur Vergangenheit, sondern bleiben aktuell und bedrohlich.
Für meinen Artikel zum Thema „Schreiben hilf“ habe ich mich mit Maggie Schauer unterhalten, die das Kompetenzzentrum Psychotraumatologie an der Universität Konstanz sowie der Organisation vivo international leitet. Sie und ihre Kollegen arbeiten mit Menschen, die multiple Traumen erlebt haben und sie helfen ihnen, ihre Geschichten zurück zu gewinnen.
Sie tun das, in dem sie die Menschen im Rahmen der Narrative Exposure Therapy (NET) mit ihren Traumen konfrontieren, sie wieder erleben lassen, aber dabei gleichzeitig Rahmenbedingungen ihrer Geschichte erinnern. Zeit und Ort, handelnde Personen, Nebenschauplätze, Bezugspersonen tauchen wieder auf. Die Lebenslinie wird wieder sichtbar- und tatsächlich symbolisch in der ersten Sitzung dargestellt – mit Steinen für die belastenden Aspekte und Blumen für die schönen Erlebnisse. So werden in wenigen Sitzungen die Traumen wieder eingefangen, sie flottieren nicht mehr frei durch den Körper, Flashbacks verschwinden, die Traumen erhalten ihren Platz in der Lebenserzählung. Damit werden sie endlich zur Vergangenheit.
Das alles hatte ich selbst bereits ähnlich in den Interviews mit Verfolgten des Holocaust erfahren, die die Nazizeit als Kinder im Versteck überlebt hatten. Sie hatten mir von ihren Kindheitserfahrungen, aber auch von ihrem späteren Leben erzählt. Zusammen hatten wir auch traumatische Phasen erinnert und ertragen – immer eingebettet in die Lebenslinie, die sie im Interview erzählend legten. Und ganz am Schluss hatte ich ihre Geschichten aufgeschrieben.
Dieser Schritt, dies auf das Papier bannen, schien für manche von ihnen eine ganz besondere Bedeutung zu haben. Für jene, deren Erinnerungen besonders fragmentiert gewesen waren und vielleicht noch nicht zur Vergangenheit hatten werden können.
Maggie Schauer erzählte mir, dass auch Menschen, die gar nicht lesen können, in der letzten NET-Sitzung meist sehr berührt davon sind, wenn sie ihre aufgeschriebene Erzählung in den Händen halten. Das Aufschreiben übernehmen die Forscher mithilfe von Dolmetschern. Trotzdem sind es die früheren Opfer, die zu Autoren geworden sind und dadurch auch wieder Autorschaft über ihr zukünftiges Leben übernehmen können.
Maggie Schauer erzählte mir von einer Frau, einer Analphabetin, die das Heilsame am Erzählen und Aufschreiben ihrer Geschichte besonders schön formuliert hat. Sie hatte nach Abschluss der Therapie das Manuskript entgegen genommen und sagte: Jetzt halte ich meine Geschichte hier – im Herzen – und auch in den Händen.