Atmen nicht vergessen

„Spilling your pain onto the page is healing“, sagt Gabriele Rico, die Erfinderin der Cluster-Methode, die heute in keinem Managerseminar mehr fehlen darf, weil sie Kreativität und damit Ideen hervorlockt.

In ihrem Buch „Pain and Possibility. Writing Your Way through Personal Crisis“ beschreibt Rico das Clustern, außerdem Wort Skulpturen und Wort Zeichnungen als Methoden, mit denen wir schmerzhafte Erfahrungen auf Papier bannen können.

Bannen ist das Stichwort hier. Zähmen könnte man es auch nennen = „taming“ im Englischen. Rico schlägt als Begriffe „framing und naming“ vor, denn ein „Frame“, ein Rahmen, gibt Halt. Und er kann auch ein Behälter sein und dem „containment“ dienen.

Therapeuten werden oft zu Containern, die Gefühle des Klienten aufnehmen und so modifizieren, dass sie verdaulich werden. Ähnlich wirkt offensichtlich das Externalisieren auf Papier. Dort bekommen Gefühle einen Namen und einen Rahmen, sie werden verdaulicher und wir können weiter gehen, werden nicht länger von ihnen blockiert.

Denn oft halten wir buchstäblich die Luft an, wenn etwas Unangenehmes in uns auftaucht: In Stress und Angst zieht sich das Zwerchfell zusammen und lässt oft lange nicht mehr los. Oder die Schultern werden angespannt und bis auf weiteres festgezurrt. Oder der Magen streikt, der Darm wird hyperaktiv oder versagt seinen Dienst.

Entspannung – das ist dann nicht so ohne weiteres möglich.
Rico empfiehlt, mehrmals am Tag einen kleinen Check-In zu machen, wie es mit unseren Gefühlen denn bestellt ist. So könne man verhindern, dass sich Unverdautes zu lange aufstaut.

Denn das ist auf Dauer gesundheitsschädlich. Krankheiten aller Art können die Folge sein. Das sagt natürlich nicht nur Rico – ähnlich argumentieren Anhänger von Achtsamkeitspraxis, Ärzte und Psychologen. Darunter ist auch Hilarion Petzold und die integrative Schule, die das Leben als einen Prozess versteht, in dem Ausdruck dem Eindruck folgen muss. Das bedeutet: Leben ist Bewegung, ist Veränderung. Was mit uns geschieht, setzt etwas in Gang, das ausgedrückt werden will und einen Eindruck produziert, der wieder etwas in Gang setzt … Das ist wie Atmen. Wer sich diesem Prozess entgegenstellt oder ihn stoppt – also das Zwerchfell festzurrt, die Schultern hochzieht, Gefühle, Eindrücke verdrängt, verneint – setzt sich und seinem Körper fortgesetzten Druck aus.

Gut, nicht in jedem Moment können wir frei mitschwingen und unseren Impulsen folgen, wie es vielleicht gesund wäre. Aber Innezuhalten und zu schauen: Was ist da eingeschrieben in meinen Körper, was sagt meine Atmung über meine Fähigkeit zu fühlen, das ist eine gute Idee.

Ich habe heute morgen die Anregung von Gabriele Rico aufgenommen und eine Word Skulptur und dann einen Word Sketch angefertigt:

Word Skulpturen sind Gebilde, die in Sekunden entstehen, in dem wir unseren Bleistift absichtslos übers Papier gleiten lassen, einem inneren Impuls folgend.
Vorher – so regt Rico an – lohnt es sich, tief und bewusst zu atmen und in uns hinein zu spüren.

Das Ergebnis: In meiner schnell dahin gemalten Figur sah ich eine schöne Frau, die mir aufmunternd zuzwinkerte. Eben war ich noch ein wenig verzagt gewesen, jetzt wuchs unerwartet mein Mut, den Tag anzupacken. Ja, ich entdeckte Lebenslust in den Ecken und Windungen meines Word Sketches. Ein kleines Gedichtchen (= Word Sketch) schrieb ich noch daneben – und fühlte mich auf einmal ausgeglichen.

Das wünsche ich Euch auch – vielleicht macht Ihr ja auch einen kleinen Check-In und entdeckt ungeahnte Potenziale. Und wenn es wider Erwarten ein unangenehmes Gefühl ist, das in Euch schlummert und zum Vorschein kommt, dann ist es ja jetzt auf Papier gebannt und kann gezähmt werden. Und ihr könnt entspannter weiter atmen. Einen Versuch ist es wert.

3 Kommentare zu „Atmen nicht vergessen“

    1. Liebe Beatrice, ich freue mich sehr über Dein Interesse. Du findest die Wortskulptur und die Wortsketche schön beschrieben in dem Buch „Pain and Possibility – Writing Your Way Through Personal Crisis“, erschienen bei Tarcher, LA. Vielleicht wurde das Buch auch übersetzt?
      Heute morgen war die Wortskulptur, die ich spontan gezeichnet habe, wieder sehr überraschend, in der Linie, die ich ohne Nachdenken zeichne (das ist schon die ganze Methode), sehe ich Aspekte, die mir nicht bewusst waren. Sehr spannend ist es, wenn Du die Wortskulptur immer mit Datum und Namen versiehst – sie zu deiner machst – so kann eine Art Sketch-Tagebuch entstehen, mit Wortskulpturen und kleinen Texten. Ich wünsche viel Freude an der Erfahrung …

  1. Gabriele Ricos Buch ist übersetzt worden und heißt auf Deutsch: „Von der Seele schreiben“

    Es erschien im Junfermann-Verlag; ist aber nur noch antiquarisch erhältlich.

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