Ein Hoch auf einen Lebejüngling oder: Das Memoir ist in Deutschland angekommen

„Memoir“, was soll das sein? Selbst bildungsaffine Menschen, die mich und meine Arbeit gut kennen, fragen mich noch manchmal, was sich hinter dem ungewöhnlichen Begriff verbirgt: „Meinst Du damit vielleicht Memoiren – so wie von Marlene Dietrich oder Charles de Gaulle?“
Nein, ich meine nicht die Autobiografien berühmter Leute. Ich meine damit das äußerst erfolgreiche literarische Genre „Memoir“, das dem Roman in den USA bereits den Rang abgelaufen hat. Nicht gestern, sondern schon seit 15 Jahren dauert der Erfolgszug an und hört nicht auf.

„Über den Entwicklungsroman ins Nichts“ schrieb Thomas Hüetlin nun in „Der Spiegel“ (10/2016) eine Kritik, in der endlich einmal das korrekte Genre „Memoir“ vorkommt. Hüetlin kennt sich mit amerikanischer Literatur aus, er kann das Kind beim Namen nennen.

Andere tun sich da schwerer, vor allem deutsche Verlage, die Memoirs partout nicht so nennen. Statt dessen heißen sie hierzulande etwa autobiografischer Roman oder Roman, der auf wahren Begebenheiten beruht. Dabei sind Memoirs keine Fiktionen, sondern moderne Autobiografien, die mit literarischen Mitteln geschrieben werden. Und sie sind weltbekannt, dank so unterschiedlichen Autoren wie Pulitzer-Preisträgerin Harper Lee („Wer die Nachtigall stört“), Elizabeth Gilbert („Eat, Pray, Love“) oder auch Frank McCourt („Die Asche meiner Mutter“).

Neben den Autoren haben die Psychologen das Memoir entdeckt. Für sie ist es nichts weniger als ein Königsweg zu einem befreiteren Leben. Linda Joy Myers ist Familientherapeutin, Gründerin der National Association of Memoir Writer’s und hat ein preisgekröntes Memoir geschrieben. Vor allem aber ermutigt sie ihre Klienten, ihr Leben um und neu zu schreiben.

Das funktioniert, denn in der Konfrontation mit dem jüngeren Ich lässt sich vieles neu bewerten, wenn auch nicht verändern. Die Herausforderung, die eigene Geschichte auch für andere nachvollziehbar und lesenswert zu machen, lenkt den Blick auf all die Widrigkeiten, die man überwunden hat und auf die Tatsache, dass man so viele Probleme bereits gemeistert hat. Ja, und so ist man heute zu der oder dem geworden, der man nun mal ist. Diese Erkenntnis kann erleichtern und stolz machen. Die Zukunft lässt sich mit so einer Haltung auf jeden Fall leichter gestalten.

Wozu also Fiktion, wenn das Leben so spannend ist? Das ist eine der Erklärungen, die für den Aufstieg des Memoirs in den USA verantwortlich ist. Oder die folgende, die von Benjamin von Stuckrad-Barre stammt, Autor, Lebejüngling, gehypter Texter – er schrieb etwa für Harald Schmidt und seine Show: „Ich lese ungern Fiktion, das interessiert mich irgendwie nie. Deshalb habe ich relativ früh angefangen zu beschreiben, was mit mir ist. Mich selbst als Abräumhalde zu benutzen. Relativ 1:1“.

Benjamin Stuckrad-Barre ist zugegeben ein Extremfall, ein Narzisst, ein überlebender Hochbegabter, dem die protestantischen Ökoeltern den Spaß am Leben mit ihren strengen Wertvorstellungen austrieben. Den Spaß hat sich der Junge, der jetzt 41 ist, in der Welt der Drogen, der Schönen, der Berühmten verschafft, in der er nach Nahrung suchte und nicht fand. Drogen und Bulimie sind Stationen von Stuckrad-Barres Abstieg, der kurz vor dem Ende gestoppt wurde. Vielleicht dadurch, dass Stuckrad-Barre sein Memoir in L.A., in einer Dauerschreibsitzung schrieb.

Am Beispiel Barres wird deutlich, was ein Memoir kann. Es scheint dem verzagten Stuckrat-Barre ein Stück Leben geschenkt zu haben: „Mich gab es gar nicht mehr, da war alles Buch“, sagt er etwa und Hüetlin folgert: „In L. A.., dieser Welt der Künstlichkeit und der Fälschungen, findet er im Schreiben, in der Kunst Klarheit und Versöhnung mit sich selbst“ (Hüetlin, S. 120).

Das kann man Stuckrad-Barre nur wünschen. Dies Memoir eines Narzissten mag nicht jedem gefallen, aber die Tatsache, dass es ein Genre salonfähig macht, ist ein Erfolg für alle, die im deutschsprachigen Raum ihre Memoirs schreiben und daran wachsen.

PS: Wer Lust hat, selbst Geschichten aus seinem Leben aufzuschreiben oder gar ein Memoir beginnen möchte, kann seine wohltuende Wirkung auf das eigene Lebensgefühl vom 9. bis 11.9.2016 auf Wangerooge testen. Dort startet im siebten Jahr ein dreitägiger Workshop zum entwicklungsfördernden Schreiben. Schwerpunkt diesmal: Schlüsselszenen des eigenen Lebens und Schritte in die Zukunft.

Das ist die Frage, die uns in diesem Sommercamp besonders beschäftigen wird! Um sie zu beantworten, wollen wir nach Herzenslust fabulieren, fantasieren und Geschichten zu schreiben, die uns unserer Version von Freiheit näher bringen.

Im Sommercamp teile ich deshalb Schreibeinladungen und Imaginationen für drei entspannte Urlaubswochen. Nutze sie, wo immer du möchtest, zu Hause, am Strand, in den Bergen oder anderswo und erlebe jeden Tag ein bisschen deutlicher, wie sich Freiheit anfühlen kann!

Auf in einen wonnevollen Schreibsommer!

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