Gestern habe ich an dieser Stelle darüber sinniert, wie Worte auf mich (und andere) wirken. Heute und in den nächsten Tagen möchte ich Euch/Ihnen die Poesie- und Bibliotherapie (PT) näher bringen, in der Worte und ihre Wirkung einen zentralen Stellenwert einnehmen.
Die PT gehört zur Integrativen Therapie, aktuell einer der am besten evaluierten therapeutischen Ansätze. Wer eine Weiterbildung am Fritz-Perls-Institut (FPI) in Hückeswagen absolviert hat, muss später nicht unbedingt als Therapeut praktizieren, auch im Coaching, in der Erwachsenenbildung, in der Altenversorgung, an Schulen oder in Kirchengemeinden bieten Absolventen Schreibkurse an und setzen auf die Wirkung von Worten.
Poesietherapeutische Angebote unterscheiden sich grundlegend von herkömmlichen literarischen Werkstätten und Angeboten im kreativen Schreiben. Für die Kursleiter steht „der schöpferische Mensch“ im Mittelpunkt. Und es geht ihnen darum, die kreative Kraft der Kursteilnehmer zu fördern. Sie ist der Motor unserer Entwicklung – schon wenn wir auf die Welt kommen und bis ins hohe Alter hinein.
In Kursen mit poesietherapeutisch ausgebildeten Leitern ist folglich der kreative Prozess wichtiger als das Produkt, das als Momentaufnahme als vorläufiger Ausdruck empfunden wird. Es geht auch nicht um literarische Fertigkeiten, auch wenn oft schöne, beeindruckende Texte entstehen. Sondern es geht in den Schreibtreffen darum, dass Teilnehmer einen Ausdruck für ihre eigenen Erfahrungen finden können. Einen Ausdruck, den sie vielleicht jahrzehntelang nicht finden konnten, weil es in der Schule, im Elternhaus und auch später keinen Raum dafür gab.
Workshopteilnehmer berichten mir immer wieder davon, dass ihnen Beurteilungen wie „Thema verfehlt“ das Formulieren verleidet haben. Eine 65jährige Kursteilnehmerin erzählte mir auch davon, dass sie mit dem Schreiben aufgehört hatte, nachdem ihre Mutter ihre Tagebücher gelesen hatte. 50 Jahre schrieb sie nicht – und vermisste es schmerzlich. Heute schreibt sie endlich wundervolle humorvolle Anekdoten und Geschichten. Sie hat ihren Stil gefunden und drückt aus, was in ihr steckt. Und das ist nach all den Jahren des Schweigens eine ganze Menge.
Die eigene innere Stimme wieder zu finden ist ein zutiefst befriedigender Prozess.
Eindrücke, die – unausgedrückt – womöglich krank machen können oder schon krank gemacht haben, werden nun ausgedrückt. Mir drängt sich da der Vergleich mit dem Atmen auf. Atmen gehört zum Leben dazu. Wir alle atmen ein und aus, in unserem ganz eigenen, spezifischen Tempo. Ganz ähnlich ist es mit dem Erleben: Wir alle erleben täglich so viel, und bearbeiten davon so wenig, drücken kaum etwas von diesen Impressionen wieder aus.
Beim täglichen Schreiben und auch in meinen Kursen erlebe ich oft, wie viel leichter das Leben fließt, wenn Eindrücke aufs Papier gekommen und in neue Erkenntnisse, Erfahrungen übergehen. Ich gehe weiter, ich atme ein, ich atme aus.
In einer Seniorenresidenz leitete ich vor einigen Monaten einen Schreibkurs, in dem ich die 70- bis 98jährigen Teilnehmerinnen einlud, sich an Elchen und Haikus zu versuchen, Miniaturen über ihre täglichen Erfahrungen zu schreiben und kleine autobiografische Geschichten über die Vergangenheit. Nach dem ersten Treffen hielt mich eine ehemalige Journalistin an der Tür auf. Sie hatte Tränen in den Augen und erzählte mir, dass sie ihr Leben lang geschrieben hätte. Heute aber hätte sie das erste Mal wirklich Freude dabei empfunden. Sie habe das Schreiben zum zweiten Mal entdeckt – für sich selbst. Und sie sei gespannt, was sie dabei entdecken könne …