Schreiben und Selbstsorge

Um sieben Uhr am Sonntag bin ich hellwach.

Die nächste halbe Stunde verbringe ich am Laptop – nein, nicht um meine Morgenseiten zu schreiben, sondern an meinen Artikel. Meine Recherchen dazu lassen mich nicht kalt, sie bringen mich mit Menschen in Kontakt, die seit Jahren ihre Körper misshandeln. Sie hungern, sie übergeben sich, sie nehmen ab, bis kaum noch etwas von ihnen übrig bleibt.

Sie haben Kinder oder sie sind noch Kinder. Sie wünschen sich Kinder und können keine mehr bekommen, weil sie unfruchtbar sind. Wegen des Hungerns. Manche sind dauerhaft depressiv, weil ihr Hirn sich in der Pubertät nicht entwickeln konnte, wie es sollte.

Professionelle Distanz ist angesagt, aber wie geht das, wenn um einen herum Topmodells aus Zeitschriften und U-Tube-Videos lächeln. Und wenn ich in der nächsten halben Stunde dann in Pro-Ana und Pro-Mia-Foren im Internet lese, wie Magersüchtige sich zum Hungern aufstacheln, indem sie Wettbewerbe ausrufen: Wer nimmt am schnellsten ab? Welche Hüftknochen stechen am meisten hervor. „Erfolge“ müssen mit Foto – die eigenen Füße und das Zifferblatt der Waage gut sichtbar – wöchentlich protokolliert werden. Sonst fliegt man raus.

Und wenn mir dann eine Forscherin erklärt: Das Hungern, um ein Schönheitsideal zu erreichen, sei nur Auslöser, nicht der Grund. Genetik, Hormone, die seien ausschlaggebend für Magersucht. Das Hungern, um das Schönheitsideal zu unterbieten, wenn der Regelkreis des Körpers erst gestört ist, ein Selbstläufer, ein Teufelskreis. Oft ohne Möglichkeit, auszusteigen.

Eine Interviewpartnerin, die seit dreißig Jahren hungert, zeigt mir Bilder von sich: vorher dünn – nachher Haut, die über Knochen gespannt ist. Sie findet sich nur auf dem zweiten Bild schön. Alles eine Körperbildstörung? Oder doch – zumindest zum Teil – das allgegenwärtige künstliche Schönheitsideal? Die Frau ist blond und groß. Anerkennung bekam sie in ihrem Leben vor allem für ihre Erscheinung. In ihr drin dagegen: Leere, Angst, Selbsthass. Vor allem, wenn sie in den Spiegel guckt und die Waage 500 Gramm mehr zeigt.

Und dann erzählen mir Freunde von ihrer Tochter, die ich kenne, seit sie laufen kann. Ist sie nicht neulich noch lachend auf dem Trampolin herumgesprungen? Nun ist sie magersüchtig, Haut und Knochen, will aber nicht in eine Klinik. In eines dieser Häuser, in denen Magersüchtige nicht aufstehen dürfen, wenn sie nicht wie verabredet zunehmen. Und nicht allein aufs Klo gehen dürfen, sie könnten sich dort ja übergeben.
Eine Interviewpartnerin sagt, diese Rigidität habe ihr das Leben gerettet. Immer noch ist Magersucht von allen psychischen Störungen jene mit der höchsten Todesrate.

Um sieben Uhr am Sonntag bin ich hellwach. Alles klar?

Schreiben und Selbstsorge ist hier angesagt. Das, was mir hier in meiner Rolle als Journalistin widerfährt, kann auch passieren, wenn er oder sie ein Memoir oder eine wissenschaftliche Arbeit schreibt. Das Thema lässt einen nicht mehr los. Wer eine Doktorarbeit schreibt, kennt das.
Auch das Gegenteil ist möglich, man hat keine Lust mehr auf ein Thema, hat Angst, nie fertig zu werden. Auch dann steht man sonntags morgens um sieben senkrecht im Bett – oder nachts um zwei oder um vier.
Warum auch immer beim Schreiben Nöte entstehen – sie brauchen vor allem eines: Selbstsorge.

Besonders gut für sich kochen (gerade bei meinem aktuellen Thema), gute Gesellschaft, kleine Belohnungen, ausreichend Schlaf und Pausen, Rücksicht auf den Arbeitsrhythmus. Für manche sind jetzt klare Strukturen gut – Pulitzerpreisträgerin Anne Tyler schrieb beispielsweise immer nur von acht bis 13 Uhr. Für andere gilt „go with the flow“. Und schreiben dann eben morgens um sieben.

Schreiben verlangt Selbstsorge. Zum Beispiel so: Ein dampfender Kaffee, gleich ein Gang zum Bäcker und lecker Brötchen holen, um mit Kindern und Mann zu frühstücken, den freien (?) Tag sich entfalten lassen … und zwischendurch vielleicht mal wieder an den Schreibtisch.

Ich wünsche Euch einen wundervollen Sonntag mit viel Selbstsorge – auch wenn ihr gerade nicht an einem Projekt schreibt.

0 Kommentare zu „Schreiben und Selbstsorge“

  1. Liebe Birgit,
    Selbst -Für -Sorge(n)….die die Folgen der Magersucht mit sich bringen..fehlt manch einem der Mut, um am Leben , wie es seinen Lauf nehmen will , teilzunehmen.
    Ich danke dir, daß du dieses Thema mit uns teilst. Erschüttert erlebe ich gestandene Frauen, die mit der Umstellung auf eine Zeit des Wandels des weiblichen Körpers zur Menopause hin auch im Alter noch versuchen durch striktes Hungern das Locker werden des Gewerbes aufzuhalten. Und es beginnen Zeiten in denen die gesamte Familie in Not gerät. Das war mir bis vor kurzem als Problem überhaupt nicht bewußt. Es in deinen sanften Worten gehüllt zu lesen tut mir gut. Iris

  2. Danke, Iris, für deine Antwort auf den Blog. Ich kann nur bestätigen, was Du sagst: Die Unlust am Körper betrifft nicht nur Teenager. Sie ergreift Frauen jeden Alters und – wahrscheinlich besonders – in der Lebensmitte, wenn Attraktivität und Jugendlichkeit nicht mehr so leicht aufrecht zu erhalten sind. Über die seelischen und körperlichen Folgen – Sportstress, Diätstress, invasive Eingriffe usw. ist bislang nicht so viel geschrieben worden. Die meisten Gegenmaßnahmen gegen das Alter werden als Selbstsorge verstanden oder eben missverstanden. Die Kosten für rekonstruktive und ästhetische Chirurgie sind von 35.000 (2004) auf 200 000 (2013) gestiegen!
    Aber es gibt auch Aktionen für mehr Körperakzeptanz, siehe hier: https://thenuproject.com/galleries
    oder hier http://www.abeautifulbodyproject.org/the-bodies-of-mothers/
    Ganz herzlich, Birgit

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