„Warum tun wir uns das an?“ – Über das Gruseln und Entsetzen an Halloween

Es war am Mittwoch, 15 Uhr, bei Karstadt in Bremen. Nach drei Rolltreppen stand ich vor folgendem Objekt:

Einem halben Arm, ohne Schulter, mit langen knochigen Fingern und Krallen, von denen rotes Kunstblut tropfte. Von einem Ständer baumelten weitere  „Zombie-Pakete“,  abgerissene Gliedmaßen aus Kunststoff und diverse Fleischwunden zum Aufkleben.

Mein neunjähriger Sohn hatte mir aufgetragen: Bring das Gruseligste von allem mit – entweder die eklig-gelben Monsterzähne, die aufgerissene Wange oder die Einschuss-Löcher in verschiedenen Größen.

Mir wurde leicht übel von diesem Anblick, doch wenn ich mich umdrehte, grinsten mich Geistermasken, Hexenfratzen, Vampirgebisse an. Warum tu ich mir das an?, war mein Gedanke. Warum tut irgendjemand sich das an?

Mein Sohn beispielsweise ist mitfühlend und ja, sensibel. Wenn er von verletzten Tieren hört, bricht er in Tränen aus, wenn in Harry Potter-Filmen ein Werwolf erscheint, kriegt er Albträume. Jetzt aber wollte er sich gruselig zurecht machen, um danach danach brave Leute mit wüsten Drohungen wie „Süßes oder Saures“ zu erschrecken.

Da kommt die Mutter ins Grübeln. Was steckt bloß dahinter – hinter dieser Lust auf Angst, auf Ekel und Grusel? Die Süßigkeiten an Halloween allein können es nicht sein.

Was bringt Menschen, selbst Kinder, dazu, sich vorsätzlich zu ängstigen und vor allem: Was daran macht vielen so unbändigen Spaß?

Für die kindliche Entwicklung sei dieser Wechsel zwischen Furcht, Überwindung und Erleichterung sehr wichtig, weiß Psychologin Gertraud Finger: „Damit üben sie auf spielerische Weise, wie man mit beängstigenden Gefühlen umgeht und vor allem, dass man sie bewältigen kann. Das stärkt enorm das Selbstbewusstsein.“ Außerdem lernten sie, so die Expertin, dass sie Anspannung ertragen könnten und wüchsen so dran.

Diese Information stammt von meiner Freundin Brigitte, die sich mit dem Thema Angst-Lust beschäftigt und in ihrer Hamburger Schreibgruppe harmlose ältere Damen etwa lustvoll zu grausamen Märchen anstiftet.

Sie weiß auch, dass Hormone im Spiel sind, wenn wir uns gruseln, und das zunächst Adrenalin, dann aber Dopamin, die Belohnungsdroge, ausgeschüttet wird, wenn wir eine schwierige Situation meistern. Das könne sogar süchtig machen. Je nach biochemischer Ausstattung würden manche Menschen außerdem schnell gruselsatt, währende andere immer neue Horrorfilme schauen und den nächsten Kick suchen.

David Lätsch, ein Psychologe, der die heilsame Wirkung von fiktiven Geschichten erforscht hat, hilft mir bei meinen Überlegungen über die Lust an der Angst ebenfalls weiter:

In bösen Geschichten, so schreibt er, können wir uns Wünsche erfüllen, die wir in der Realität nicht ausleben könnten. Wir erlauben uns etwa Rachegefühle, die uns im wirklichen Leben nur schaden würden.

Aus Erfahrung weiß ich selbst jedenfalls, dass wir in allen Geschichten fiktiv oder nicht – mit Anteilen von uns selbst spielen. Vor allem auch den ungeliebten, vielleicht wütenden, aggressiven, enttäuschten Teilen von uns. Wir können uns besser kennen lernen und unsere Emotionen managen.

In den Geschichten auf Papier und auf dem Screen ist es erlaubt, alle Teile einmal auszuprobieren. Sich etwa mit zu freuen am Leid anderer, mit zu gruseln, uns zu wehren, zu rächen, oder einfach mal mutig und streitbar, ja aggressiv zu sein, all das zu tun, das wir in Wahrheit niemals in Erwägung ziehen würden.

Wir sind Herrin oder Herr der Gewalten. Wir können die Geschichten jederzeit beenden. Wir können ein Ende umschreiben. Am Ende kann das Gute siegen. Die böse Hexe verbrennt. Hänsel und Gretel kehren nach Hause zurück.

Und auch wir können erleichtert zurückkehren in die Realität und uns wieder auf die soziale Kontrolle verlassen. Bei uns selbst und anderen. Weitgehend.

Im Schreibsalon an Halloween haben wir daher „böse Geschichten“ ausprobiert. Und diese Erfahrungen gemacht:

In Fahrt gekommen, wunderten sich manche darüber, wie sehr sie ihre bösen Ideen genießen konnten: „Was da alles in uns steckt, unglaublich!“, lautete ein Kommentar. Andere stellten fest: „Grausamkeiten kommen für mich auch in der Phantasie nicht in Frage.“ Eine dritte Reaktion lautete: „Gar nicht so leicht, die soziale Kontrolle aufzugeben, aber schön wär’s schon mal. Können wir das noch mal probieren?“

Was meine Karstadt-Expedition angeht, so hielt ich schließlich außer den blutenden Wunden noch einen grünen Plastikfuß zwischen Daumen und Zeigefinger, daran noch Fetzen von Fleisch und ein Stück Beinknochen. Alles von 6,99 auf drei Euro reduziert, ein Schnäppchen, wie mir die Verkäuferin versicherte. Und genau das Richtige hoffentlich, um das Gruseloutfit meines Sohnes zu ergänzen und sein Selbstbewusstsein zu stärken.

Für alle, die Lust auf eine eigene böse Geschichte haben, gibt es hier ein paar Anfangssätze zum Sprung in Eure eigenen Geschichten … (Schreibzeit: zehn bis fünfzehn Minuten)

  1. An diesem Tag begann er, der Zwang sich zu erinnern …
  2. Es war ein strahlend-kalter Novembermorgen und ich hätte die Uhr am liebsten zurück gedreht …
  3. Er sah aus dem Fenster: Es schneite, dicke wattegleiche Flocken. Die Straßen glitzerten weiß im Mondlicht. Wieder einmal Weihnachtszeit. Er hasste Weihnachten …

Das ist die Frage, die uns in diesem Sommercamp besonders beschäftigen wird! Um sie zu beantworten, wollen wir nach Herzenslust fabulieren, fantasieren und Geschichten zu schreiben, die uns unserer Version von Freiheit näher bringen.

Im Sommercamp teile ich deshalb Schreibeinladungen und Imaginationen für drei entspannte Urlaubswochen. Nutze sie, wo immer du möchtest, zu Hause, am Strand, in den Bergen oder anderswo und erlebe jeden Tag ein bisschen deutlicher, wie sich Freiheit anfühlen kann!

Auf in einen wonnevollen Schreibsommer!

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