Was gilt?

Vor ein paar Tagen schrieb ich vollmundig darüber, dass ich mehr Vertrauen in meine Kinder, meine Mitmenschen und mich selbst entwickeln möchte.

Ich muss gestehen, es fällt mir nicht leicht.

Meine Synapsen sind doch recht stabil, neue Bahnungen und Verknüpfungen entwickeln sich in meinem Hirn langsam. Meine Freundin K. würde sagen: „Das Alter, Birgit, das Alter“. Aber diese Ausrede lassen Neurobiologen ja heute nicht mehr gelten und sagen: Hirnentwicklung ist bis ins hohe Alter möglich.

Ich könnte vielleicht anführen, mein Hirn setze auf Tradition und sei deshalb recht resistent gegen Neuerungen, aber auch das muss ich nun revidieren.

Was ist passiert? Bis vor drei Tagen sorgte ich mich bis hin zu nächtlichem Bauchweh darum, dass mein vierjähriger Sohn auf dem besten Weg zur Fernseh- oder Medienabhängigkeit sein könnte. Was daran liegt, dass er nun schon abends vor dem Zähneputzen verkündet, welche Sendung er morgens im Fernsehen sehen möchte.

Letzteres darf er erst seit Beginn der Ferien und auch nur so lange, bis Mama oder Papa morgens wach sind – was keinesfalls um viertel vor sechs der Fall ist, wenn Junior findet: „Mir ist langweilig“. Allerdings hat der elektronische Babysitter bereits enormen Einfluss auf unseren Sohn entfaltet: Beim Frühstück erfahren wir vom Zickenkrieg auf irgendeiner uns unbekannten Pferderanch, beim Mittagessen erfahre ich, dass Weltraumkinder nie abräumen müssten, das wüsste er, Max, definitiv aus seiner Lieblingsserie.

Nun, diese Auswirkungen kann ich als Mutter nicht tolerieren. Auch ein neuer beruflicher Auftrag – es geht um Medienabhängigkeit bei Kindern und Jugendlichen – hat mich nachdenklicher gemacht. Und so klagte ich meiner Freundin M. beim Mittagsdate mein Leid. M. diagnostizierte überzeugend: Die Erlaubnis, in der Früh fernzusehen, hätte nicht nur die Medienaffinität unseres Sohnes gefördert, sondern auch dazu geführt, dass er immer früher aufstehe. Zu diesem Zeitpunkt mit Tendenz zu 5.30 Uhr. Da waren doch gefährliche Verbindungen in den Synapsen oder sonstwo entstanden!

Den Teufel mit dem Beelzebub austreiben! riet meine Freundin M. Nun gut, sie hat es etwas anders formuliert, aber darauf läuft es hinaus. Max bekam von M. einen Kassettenrekorder und etwa 30 CDs mit Geschichten und -musik geschenkt, die ihre Kinder ausrangiert hatten (Danke noch mal, M. und K. und N.): „Jetzt sagst Du ihm einfach morgens, er soll sich noch mal hinlegen oder eine Kassette einlegen. Haben wir früher auch gemacht.“

Ich tat wie ich geheißen. Und siehe da: Mein Sohn Max kann morgens auch ohne das Fernsehen leben. Mit den neuen orangefarbenen Kopfhörern, die ich spendiert habe, hört er nun marathonmäßig die guten alten CDs.
Diese Dinger, die meine Eltern vor gefühlten hundert Jahren verteufelt haben und mir mit aller Macht abzugewöhnen versuchten: „Kind, das kann nicht gut für den Kopf sein“ und „Das haben wir früher auch nicht gemacht“.

Mein Mann, ein Medienapologet, erklärte mir nun, dass diese Bedenken nicht gerade neu seien. Im 18 Jahrhundert hätten Staat, Kirche und auch moderne Aufklärer eine neue Form der Abhängigkeit gefürchtet: Die „Lesesucht“. Sie hätten es für bedenklich gehalten, wenn Jugendliche und Erwachsene Stunden in ihren Zimmern mit Büchern verbrachten, allein, ohne sozialen Kontakt.
Noch 1844 habe das Universallexikon der Erziehungs- und Unterrichtslehre gewarnt, durch das Lesen werde „das Müßiggehen zur Gewohnheit und bewirkt, wie aller Müßiggang, eine Abspannung der eigenen Seelenkräfte“.

Was wird wohl 2084 über unsere aktuelle Angst vor Medienabhängigkeit geschrieben werden? Und, viel wichtiger, wie gehe ich heute mit den Bedenken und Sorgen um? Schließlich: In welche Richtung bahne ich morgen früh die Gewohnheiten meiner Kinder?

Wahrscheinlich gilt immer noch: Ich muss Vertrauen haben. Auf meine Fähigkeiten und mein Gespür, das richtige Maß im Umgang mit Fernsehen, Handy, Computer zu finden.

Wenn ich an mir zweifle, denke ich daran, dass ich als Jugendliche leidenschaftlich gern CDs gehört habe und immer noch viel lese, ohne dass meine „Seelenkräfte“ deswegen abgenommen hätten. Im Gegenteil …

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