Frei werden für ein lebendiges Jahr

Noch liegt das Jahr frisch und unverbraucht vor mir. Wie ein Ozean, der darauf wartet, von mir bereist zu werden. Ich mag den freien Blick bis zum Horizont, der unendliche Möglichkeiten jenseits meiner Vorstellungskraft verheißt.

Am vergangenen Wochenende war ich deshalb am Meer, mitten im Orkan, um hinaus zu blicken. Es war stürmisch und ich fühlte mich den wirklichen Mächten des Lebens ziemlich nah. Doch weit gucken konnte ich nicht, weder übers Meer (zu viel Gischt, zu viel grauer Himmel), noch in die Zukunft.

Ich bin neugierig. Was mir wohl in den kommenden Monaten begegnet? Zugleich möchte ich es nicht zu genau wissen. Die vergangenen Jahre haben einige unliebsame Überraschungen gebracht. Nicht nur mir, vermute ich. Darum sehne ich mich danach, dass es in diesem Jahr leichter wird. Damit die Wahrscheinlichkeit wächst, sorge ich Anfang des Jahres gerne vor.

Täglich grüßt das Murmeltier

Am 3.2. war wieder Murmeltiertag, ein Ereignis, das sprichwörtlich geworden ist, seit Bill Murray am Murmeltiertag in einer Endlosschleife gefangen war.

Bei mir grüßt das Murmeltier jedes Jahr genau zweimal. Zweimal jährlich überkommt mich der unbändige Drang, in meinem Leben aufzuräumen. Der Drang ist so groß wie die Sehnsucht nach Weite und Meer. Zweimal jährlich überkommt mich der unbändige Drang, in meinem Leben aufzuräumen. Der Drang ist so groß wie die Sehnsucht nach Weite und Meer.

In den ersten Jahreswochen fahre ich also an die Küste und beginne nach meiner Rückkehr mit dem Ausmisten. Dinge und Besitztümer, die mich belasten, geht es dann an den Kragen. Da bin ich hartnäckig wie das Murmeltier.

  • Als erstes kommen die Socken dran. Löcher, durchscheinende Stellen, ungünstige Farbe? Weg damit.
  • Dann die Stiftebox meines Sohnes: Buntstiftzipfel, Kugelschreiber ohne Mine, blasse Filzstifte? Weg.
  • Und unser Küchenschrank: Letzte Exemplare einer Glassorte? Weg. Teller mit Sprung? Aber so was von weg. Tupperdosen ohne Deckel? Weg.

Meine Coaching-Kollegin Cordula Nussbaum empfiehlt gern die drei Dinge-Strategie. Sie funktioniert so: Immer wenn wir gelangweilt sind, auf einen Rückruf warten oder eine Pause brauchen, sollen wir drei Dinge finden, die weg können (in meiner Schreibtischschublade werde ich immer fündig) und sie gleich entsorgen.

Sofort fühle ich mich besser, klarer. Als hätte ich einen Scheibenwischer angestellt und endlich klarere Sicht.

Noch aufgeräumter fühle ich mich, wenn ich anschließend kleine Schäden repariere, so wie vorgestern: Ich nähte den Bommel an die Mütze, wechselte die Birne im Obergeschoss, brachte die Flaschen aus dem Keller zum Container. All diese Tätigkeiten fühlen sich so an, als machte ich mich bereit. Als bereitete ich den Weg für etwas.

Ausmisten ist für mich sowohl ein symbolischer wie auch ein ganz realer Schritt, der mir mehr Überblick schenkt. Und das Gefühl, das ich tatsächlich etwas tun kann, damit mein Leben leichter wird.

Das Wegwerfen hat zugleich etwas Symbolisches: Steht doch jedes Stück, das ich entsorge, für meine Sehnsucht nach dem Echten, Wesentlichen in meinem Leben, das ich nicht verpassen oder übersehen möchte.

Etwa weil es unter zerschlissenen Socken verborgen ist.

Die nächste Welle

Und ich weiß schon jetzt, spätestens im Mai wird mich die nächste Aufräumwelle überkommen. Inklusive Sehnsucht nach Meerblick.

Diese Welle wird dann flankiert von einem Workshop, in dem wir „schreibend Raum für das Leben schaffen, das wir uns wünschen“.

ONLINE: Schreibend Raum für DEIN Leben schaffen – 13. bis 15.5.2022

Dieser Workshop ist für mich zu einer neuen Tradition geworden. Ich freue mich auf diese Tage des inneren und äußeren Aufräumens und Loslassens. Und ich freue mich noch mehr, wenn ich meine Teilnehmer:innen anstecken kann und sie beginnen, ihren eigenen Weg zu mehr Freiheit und Klarheit frei zu räumen.

Ohne Ballast reist es sich einfach leichter zum Wesentlichen.

An drei Tagen im Mai räumen wir einerseits ganz praktisch auf. Das kann schwierig sein, wenn es sich um Dinge handelt, die wir aus Loyalität, Sentimentalität, aus Verpflichtung oder Schuldgefühlen bislang festgehalten haben.

Ich weiß jetzt schon, dass es bei mir um etliche Kleidungsstücke gehen wird, die meiner verstorbenen Mutter gehört haben. Sie nehmen reichlich Platz weg, mehrere Mäntel, Pullover, Strickjacken. Ich kann sie nicht tragen, sie sind zu groß. Und es gibt noch einen Grund, warum ich nicht hinein passe.

Wenn ich es versuche, fühle ich mich in eine Frau verwandelt, die ich nicht bin. Statt dass sie weiter Platz in meinem Schrank belegen, werde ich mich gebührend von ihnen verabschieden. Ich werde vielleicht ein Foto machen, eine Geschichte über sie schreiben oder einen Brief an meine Mutter, in dem ich sie würdige und ihr von mir erzähle. Auf diese Weise mache ich mich sanft bereit, Lebewohl zu sagen.

Nicht alle Abschiede von Dingen sind gleich schwer.

Von Tante Anitas Kaffeekanne werde ich mich leichter lösen, weil ich sie an jemanden verschenken kann, der sie schätzt. Offen ist noch, ob ich die Bücher und Aufzeichnungen endlich weggebe (hoffentlich), die ich vor Jahren für meine Dissertation angehäuft habe.

All diese Dinge bergen Erinnerungen und erzählen Geschichten. Und manchmal stehen sie für Ballast anderer Art: Für Verhalten, das wir ablegen möchten. Für Bindungen an alte Versionen unseres Ichs, für Beziehungen, die sich überlebt haben. Für Ziele, die nicht mehr unsere sind. Auch um sie kümmern wir uns beim Platz schaffen im Mai.

Wenn wir den Aspekten, die zu Ballast geworden sind, zuhören und ihre Geschichten erzählen, können wir uns respektvoll und erleichtert von ihnen verabschieden – oder aber einen Neustart mit ihnen machen, der uns zum Wesentlichen bringt. Das ist meine Erfahrung.

„Es ist Zeit, dies loszulassen…“ So lautet eine der vielen Anregungen, zu denen wir im Workshop schreiben. Sie helfen uns beim Loslassen und beim Festhalten: Denn manches braucht vielleicht nur eine neue Perspektive? Auf jeden Fall tun wir erste Schritte hin auf das, was nun für uns wesentlich werden soll.

Das Schönste an dieser Art des Aufräumens ist für mich: Es entstehen Texte, die von Herzen kommen. Texte, die unsere Verletzlichkeit ebenso zeigen wie unsere Stärke. Texte, die uns zu uns selbst und zu unserem Kern bringen. Und das fühlt sich fast noch besser an als ein Tag am Meer.

1 Kommentar zu „Frei werden für ein lebendiges Jahr“

  1. Liebe Birgit!
    Jaaa! Aufräumen, weggeben, verschenken, entsorgen! Ein Thema, dass mich schon seit fast 21/2 Jahren sehr intensiv theoretisch und vor allem praktisch umtreibt! Und immer wieder die Erleichterung, wenn Dinge endlich aus dem Haus sind. Aufatmen!!! Noch viel mehr muss weg, oder auch repariert und/oder geordnet werden. Mich treibt die Altersthematik an und damit die Frage, was brauche ich noch?
    Liebe Grüße, Gabriele.

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