Wieder was gelernt

„After you learn how to truly observe the life you live, the result may be excellence – in both the writing and in the living“ (Marion Roach, The Memoir Project).

Es sind nur 114 Seiten, auf denen die Journalistin Marion Roach erklärt, worauf es beim Memoir-Schreiben ankommt: auf die kleinen Dinge im Leben. „Small things“, die viel Größeres illustrieren. Damit hat sie mich überzeugt.

Kleine Dinge hin oder her, Roach sagt auch,  dass wir in unseren Memoirs die großen Themen ansprechen müssen, dürfen und können – mit unseren ganz persönlichen Geschichten. Und dass wir bereit sein müssen, beim Überarbeiten „auf Verlangen zu töten“, ja, sie schreibt tatsächlich von „murder on demand“.

Weg muss alles, was nichts zum Thema beiträgt, alle heiß geliebten Anekdoten, die unsere Geschichte nicht voranbringen, alle Personen, die nichts mit der Botschaft zu tun haben, mit unserer Kernthese, dem THEMA unseres Buches.

Dieses Thema finden wir Roach zufolge übrigens, in dem wir die folgende Formel ausfüllen: „Dies ist die Geschichte von Y, und sie wird illustriert durch X.“
Y ist das große Thema (z.B. die Geschichte des Erwachsenwerdens) und X ist das Beispiel, das wir mit unserem Buch geben (z.B. die Erfahrung, die eigene Kindheit abzuschließen – oder aber wieder zu erleben, sobald wir selbst Eltern werden).

Noch ein guter Tipp fürs Überarbeiten: „Schreib alle Absätze um, die mit „Ich“ beginnen.“ Natürlich sind Memoirs Ich-zentrierte Bücher – trotzdem sind unsere Erfahrungen laut Roach nur Beispiele für die größeren Themen, um die es geht. Jedenfalls, wenn wir wollen, dass unser Buch gelesen wird.

Ob mein Buch gelesen wird, interessiert mich allerdings weitaus weniger als die Frage, ob mein Leben interessant und lebenswert – oder mit Roach’s Worten „excellent“ – ist. Das beides zusammen hängt, finde ich aber praktisch.

Heute abend erfuhr ich, wie lebenswert auch ein müde-melancholischer Herbsttag werden kann, wenn die richtige „kleine Sache“ passiert. Und die spornte mich dann auch gleich zum Schreiben an.

In dreckiger Spielhose, die blonden Strubbelhaare zerzaust, die Haut ganz kalt vom Wind, setzte sich mein kleiner Sohn zu mir aufs Sofa, in der Hand die gelbe Musikmappe: „Durch den Wald und über’s Feld wirbeln bunte Blätter. Graue Wolken türmen sich, bald gibt’s Regenwetter“, sang er mit klarer Jungenstimme. Und weiter: „Der Herbst ist da, der Herbst ist da; ich mag den Herbst so sehr, denn der Herbst kommt manches Mal so wild wie ich daher!“

Ja, mein kleiner wilder Junge, von seinen Fußballfreunden „die Tormaschine“ genannt, hat ein Herz für die Musik, für melancholische Töne und für seine Mutter. Erst vier Lieder später legte er die Mappe weg und auch nur, weil wir zum Abendessen gerufen wurden.

Wie kitschig, wie rührselig, ich weiß. Und ich glaube auch, die Szene würde bei einer Überarbeitung einfach aus meinem Manuskript fliegen. Darüber hinaus weiß ich aber, dass mir diese kleine Sache den Tag gerettet hat. Und das ist zumindest eine Erwähnung in diesem Blog-Post wert, oder?

 

0 Kommentare zu „Wieder was gelernt“

  1. Liebe Birgit, ein so schöner anregender und anrührender Beitrag. Danke Dir und Deinen kleinen, wilden Herbst-Jungen. Bitte nicht aus dem Manuskript, welcher Text auch immer es wäre, streichen, sondern so umformulieren bzw. eine Form finden, dass die Episode mehr wird und Platz darin finden kann. Ist das nicht gerade Literatur, dass sie die kleinen Begebenheiten und unwichtig oder anekdotisch daherkommenden DInge so darstellt, dass sie Kunst, ja, Kunst, werden? Nun sind wir meist keine großen Schriftsteller, aber die Aufgabe bleibt doch dieselbe.
    Ich habe gerade John Banville, Die See, gelesen und es darin gefunden. Auch im untadeligen Mann. Und noch eine Memoirs-Empfehlung (obwohl die meisten Sie kennen werden) vergnüglichster Art mit Tiefgang: Joachim Meyerhoffs
    Herbstlich-herzliche Grüße, Almuth

    1. Liebe Almuth, danke für Deinen Kommentar! Du hast natürlich recht, die kleinen Dinge sind wichtig und sie sind es schließlich auch, mit denen wir es meistens zu tun haben. Sie sind unser tägliches Brot, das was wir schmecken und verdauen müssen oder dürfen. Wie Joachim Meyerhoff und Jane Gardam toll zeigen. Auch „Die See“ klingt spannend, darf ich das mal ausleihen? Ach ja, Dein Tipp, Episoden zu mehr zu machen, findet sich auch bei Marion Roach. Sie bringt ihn auf die Formel: Yes, and. Sie fordert mehr Tiefe pro Szene, nicht unbedingt mehr Worte (die sollen dann ja erbarmungslos getilgt werden, wenn sie nicht wirklich passen). Ganz herzlich und bis bald, Birgit

  2. Pingback: „Ploppen“ – oder so ähnlich | bremerschreibstudio

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