Flügge, flügger, am flüggsten

„Mama, ich finde schon selbst einen Platz“, versicherte mir gestern meine Tochter – leicht genervt von ihrer peinlichen Mutter, um dann ohne Abschiedsküsschen im ICE 2031 nach Berlin zu verschwinden. Während ich dem Töchterlein vom Bahnsteig aus noch fürsorglich zuwinkte, war sie schon in der Welt ihres Smartphones versunken – Ohrhörer im Kopf, Blick aufs Display gerichtet.

Vor ein paar Minuten, die sich jetzt anfühlen wie Jahre, hatte sie noch meine Hand gesucht und war wie eine Sechsjährige neben mir den Bahnsteig entlang geeilt, den Rollkoffer hinter sich her schlingernd. Die Hand hatte sie mir entzogen, als ich versuchte, die Zugchefin dazu zu bringen, doch „bitte schön“ auf meine Zwölfjährige ein bisschen zu achten, deren Reservierung in diesem Ersatzzug nun doch nicht galt und die deswegen ohne den bereits bezahlten Sitzplatz dastand.

„Mein Kind reist zum ersten Mal allein, da können Sie doch mal einen Blick auf sie haben“, hörte ich mich sagen und spürte die Löwin in mir.

Diese Löwin, die ihre Kinder mit ihrem Leben zu schützen bereit ist, war erstmals erwacht, als es vor Jahren galt, den geeigneten Kindergarten für mein Mädchen zu finden. Damals weinte ich heimlich auf dem Klo in der Kita, weil mir die Erzieherinnen so furchtbar kalt und uninspiriert erschienen und ich mein Töchterlein um keinen Preis der Welt da lassen konnte.

Wir fanden dann zwei Wochen später den passenden Kindergarten und liebevolle Erzieherinnen, die zu Freundinnen wurden – ein Glücksfall, ein Wagnis. Viele andere Mütter gingen in Bremen im selben Herbst leer aus und mussten ihre berufliche Zukunft eine Weile verschieben.

Heute morgen weinte ich wieder, den Kopf an der Schulter meines Mannes. „Das ist aber lange her, dass Du ein T-Shirt nass geheult hast“, sagte er sanft. Ich schniefte: „Jetzt wird sie groß, jetzt geht sie, jetzt bricht eine neue Zeit an“. „Ja“, sagte er, „und das wolltest Du doch immer. Alles ist gut.“

Alles ist gut. Obwohl ich gestern Abend gar keine Whatsapp meiner Tochter aus dem Feriendomizil mehr erhalten habe. Dafür heute morgen eine knappe Anweisung: „Mach mir bitte einen Frisörtermin“. Jetzt wird sie erwachsen, das ist der Beweis, dachte ich. Schneiden nicht alle Frauen ihre Haare, wenn eine neue Etappe in ihrem Leben anbricht?

Bisher hatte ich mein Töchterlein fast mit Gewalt zum Spitzenschneiden überreden müssen, alle Ideen für  kürzere Frisuren waren an der Peer-Pressure zum Einheitslook abgeprallt: Lange Haare, Hochsteckfrisuren, Zöpfe und sonst nichts sind angesagt.

In Berlin besucht Töchterlein jetzt eine angesagte Freundin mit neuen coolen Regeln. Die zweite Whatsapp heute morgen: „Mama, nach dem sie mich vom Bahnhof abgeholt hat, mussten wir direkt ins Nagelstudio, weil ihr Fingernagel abgebrochen ist.“ Fassungslos starrte ich auf die Message und fragte mich, was sich nach der Rückkehr meiner Tochter außer der Frisur noch alles verändern wird.

Dann der Anruf, weit weniger enthusiastisch, als ich befürchtet und gewünscht hatte: „Ich vermisse Euch jetzt schon. Und, nein, Mama, keine neue Frisur, nur Spitzen schneiden“.

Ich soll sie in Berlin nicht abholen wie eigentlich geplant. Sie will alleine im Zug zurück kommen, damit es schneller geht und sie gleich Montag wieder mit ihrer Freundin K. spielen kann. Die hat sie mit zwei Jahren im besagten, glücklichen Kindergarten kennen gelernt. Töchterlein und K. wollen ein Baumhaus bauen. Ihre langen Haare werden sie dabei zu Zöpfen flechten und vielleicht wird der ein oder andere Finger nebst Fingernagel beim Hämmern etwas leiden.

Einen Besuch im Nagelstudio werde ich jedoch noch nicht vereinbaren müssen.

 

Ferien-Schreibanregung:

Wovon musstet Ihr Euch in letzter Zeit verabschieden? Was habt Ihr dabei gewonnen? 

Einen schönen Sommertag wünscht Euch

Eure Birgit

 

 

1 Kommentar zu „Flügge, flügger, am flüggsten“

  1. Oh, liebe Birgit, wie gut ich dieses Gefühl kenne!!! Das fing schon an, als das Jule-Kind im Freibad in Göttingen mit 10 Monaten von mir wegkrabbelte, um die Wiese zu erforschen…dann ist es nicht mehr weit, bis sie ihr Krimskrams alleine schultern und auf Weltreise gehen! Solidarische Mutter-Grüße von Gesine

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