Moment mal

Das Wochenende steht bevor. Lust auf einen Tipp fürs gemütliche Schreiben auf Eurem Lieblingsplatz?

Vielleicht gefällt Euch eine Methode aus der amerikanischen Journal-Bewegung, die so  feine, passende Bezeichnungen für altbewährte Schreibanregungen geprägt hat: Wenn Ihr beispielsweise eine Szene, eine Begebenheit, eine liebgewonnene Erinnerungen detailliert beschreibt, heißt das: Momentaufnahme. Diese Momentaufnahme schreibt man idealerweise mit allen Sinne. Im Mittelpunkt steht eine Situation, die Euch bewegt, erstaunt, irritiert, erfreut, traurig oder neugierig macht. Es kann eine Szene der Gegenwart oder eine aus der Erinnerung sein.

So eine Momentaufnahme hat viele Vorteile, finde ich.

1. Sie hilft mir, schnell zu verarbeiten, was ich erlebe. Bevor es in mir weiter wirkt und mich womöglich belastet.

2. Sie hilft mir, Erinnerungen an besondere, achtsame Momente zu sammeln. Die Details kleiner feiner Situationen werden darin aufgehoben.

3. Sie macht Spaß, ich darf mit Worten spielen, bin kreativ, statt nur reaktiv.

4. Sie bietet eine Pause vom Alltag und vertieft den Moment.

5. Sie schürt Neugier und macht mir bewusst, dass auch mein Alltag spannend und besonders sein kann – wenn ich meine Augen dafür öffne: Was mag der Tag mir heute wohl bringen?

6. Sie fördert meine Offenheit: Ich begegne dem Leben und den Menschen unvoreingenommener, wenn ich den Schwerpunkt aufs Beobachten lege statt vorschnell zu verurteilen, was und wen ich erlebe.
Was genau nehme ich war? Wie kann ich das interpretieren? Wie noch? Diese Fragen führen weiter und bestätigen nicht immerzu meine alte, vielleicht überholte Weltsicht.

Nun ein Beispiel von gestern. Beim Abstecher zum Ikea-Restaurant in Bremen lernte ich eine weitere Facette meiner Mitbürger kennen – und hatte Gelegenheit, über meinen Schatten zuspringen.

Morgens, halb zehn in Deutschland

Sie stehen schon seit zwanzig, dreißig Minuten vor der Tür, in Hut oder Mütze und Mantel. Ikea macht erst um halb zehn auf, aber sicherheitshalber haben viele einen Bus früher genommen. Manche sind mit ihren gepflegten Kleinwagen gekommen, wenige in Limousinen. Es ist offensichtlich: Dies ist ein Low-Budget-Vergnügen für die ältere Generation. Hier ist kaum einer unter siebzig und jeder will der oder die erste am Billig-Frühstücksbuffet sein. Mitten unter ihnen stehe ich wie ein Paradiesvogel unter Pinguinen. Ein frierender, bunter Neuling zwischen dezent gekleideten Profis. Wenn denn mal endlich die Drehtüren in Schwung kommen würden.

Oben im Restaurant formiert sich die Schlange – sie reicht bald quer durch die Tisch- und Stuhlreihen und endet in der Kinderabteilung. Auf den Wägelchen und den Tabletts der Schlangensteher sammelt sich nach und nach die Beute: eingeschweißter Käseteller, eingeschweißter Lachs-Teller, außerdem Rührei, Pfannkuchen, Würstchen, Marmelade. Die Alten sind geübt. Routiniert werden Klappen geöffnet, Teller entnommen, die richtige Sorte Brötchen mit der Metallzange aus den Körbchen gegriffen. Eine Frau mit weißgrauen Haaren nimmt mich unter ihre Fittiche: „Das da kostet 2.95, das hier 1,95. Kaffee ist gratis.“

Der Altersdurchschnitt der Menschenschlange wird durch eine Gruppe U-30-Männer in orangefarbenen Jacken und mit bedruckten T-Shirts gesenkt: „Rettungsdienst“, steht da auf ihrem Rücken. Sie lachen, aber nicht laut – lange Nachtschicht gehabt? Jetzt kommen auch ein, zwei Mütter mit Kleinkindern und suchen günstige Plätze. Ein Vater klettert auf einen Barhocker und richtet seinen müden, aber liebevollen Blick auf den Sprössling in der Spielecke, während Mama ansteht. Die ersten Best-Ager werden an der Kasse abgefertigt. Sie setzen sich an einen Achtertisch, den sie zuvor mit Jacken reserviert hatten. Ihnen gehört bestimmt eine der Limousinen auf dem Parkplatz, der da unten in voller Pracht vor ihnen liegt. Ganz offensichtlich erfolgsgewohnt, sind ihnen auch hier vordere Plätze beim Frühstück sicher.

Rüde drängelt sich eine ältere Frau vor mir in die Schlange. Eine zweite, jüngere Frau stellt sich dazu. Ich sage: „Vordrängeln ist nicht die feine englische Art.“ Die Frau tut entrüstet  und stellt sich wieder hinter mich. Die ältere Frau vor mir wendet den Kopf, sie kann mir nicht in die Augen schauen. Die jüngere Frau hinter mir sieht es und erklärt: „Das ist meine Mutter, ich lade sie einmal die Woche zum Frühstück hier ein.“ Ich denke bei mir, „Warum rege ich mich eigentlich auf?“ und sage: „Sorry, Ihre Mutter hat das Fass heute morgen zum Überlaufen gebracht. Stellen Sie sich ruhig zu ihr.“ Die jüngere nickt: „Anstrengender Morgen? Kenn ich, Kinder, Schule und so weiter?“ Ich nicke und freue mich: Ein unerwarteter weiblicher Schulterschluss in der Rushhour des Lebens.

Mit dem Bezahlen geht es nur langsam voran – es ist lediglich eine Kasse besetzt. Die erfahrenen Buffetbesucher murren. Eine Frau schert aus auf die Überholspur und stellt sich an der zweiten Kasse an. Nach fünf Minuten ist klar: Die bleibt zu – sie ist defekt. Die anderen Kunden lassen die Frau nachsichtig nickend zurück in die Schlange. Sie haben es nicht mehr eilig, wissen, jeder wird hier früher oder später bedient. Und schließlich: Das Warten verlängert den kostbaren Frühstücks-Event immerhin um Minuten, wöchentlich, vielleicht täglich, morgens, halb zehn in Deutschland.

 

 

 

 

 

 

 

 

0 Kommentare zu „Moment mal“

  1. Was für eine herrliche Geschichte aus dem Alltag Deutschland! Und zeigt doch mal wieder, dass die Wunderwaffe Freundlichkeit ein Eisbrecher par excellence ist. Also lasst uns weiterhin alle freundlich zueinander sein!

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