Kalt gestellt

Die Hölle ist nicht zugefroren. Aber wir sind nah dran: An Friedas Bart hängen Eiszapfen, wie auch an der Buhne, die aus dem Watt am Norderneyer Weststrand ragt.

Aus dem Watt? Die typisch wellenförmigen Rillen sind mit weißem Puder überzogen, von Sand ist nicht mehr viel zu sehen. Unter meinen Füßen knatscht es, als stapfte ich durch Neuschnee. Vor mir und hinter mir liegen dicke Wülste aus Eis, ausgeschüttet übers Watt wie Zuckerguss. Lieblich sieht das aus, denke ich, während der scharfe Ostwind alles andere als lieblich um meine roten Ohren pfeift.

Frieda ist heute sicher dankbar für ihr flauschiges, leicht angefilztes Doodle-Bärenfell. Sie verdankt es der Wettervorhersage: Als ich von der Kaltfront hörte, verschoben wir ihre Kurzfell-Frisur auf Tauwetter. Nun ist Frieda die einzige, die richtig angezogen ist, für diesen hundskalten, wunderbar wilden Wintermorgen.

Entschlossen jagt und schlittert mein Hund über die glitzernden Eisflächen, hinter Möwen, Krähen und den putzigen Austernfischern her. Rutscht, fängt sich, spurtet wieder los. Wenn es nach ihr ginge, noch Stunden lang. Dann stoppt sie abrupt.

Ich erstarre, und das nicht vor Kälte. Frieda hat einen Vogel erwischt. Da sind wohl doch mehr Jagdgene in meinem Hund, als mir gut erscheinen. Ich hechte los, um die unglückliche kleine Kreatur aus Friedas Fängen zu befreien. Das Vögelchen taumelt davon, es lebt. Hoffentlich ist nichts gebrochen.

Andere hatten weniger Glück. Die Kälte fordert Opfer, drei tote Vögel findet Frieda am Strand, außerdem zwei Tümmler, Delphin ähnliche Meeressäuger. Sie liegen starr und dunkel – im Kontrast zum hell glitzernden Wattboden, friedlich, aber – so fürchte ich – nach einem Todeskampf verendet.

Ich laufe schnell weiter, um dem Anblick zu entgehen und um mich warm zu halten. Trotzdem, nach einer reichlichen Stunde Marsch durch Sonne und Wind, dann Wind und Eisschneeböen, sind meine Füße zur Hälfte taub, die Hände ganz, die Ohren, ach, lassen wir das.

Von den Inseln sagt man, sie hätten Reizklima. In der Tat. Im Radio sprechen sie von irgendeinem Jahrhundertrekord für Februar. Einen Orkan hatte ich schon mal erlebt auf Wangerooge vor zwei Jahren. Damals lernte ich Demut unter dem Dach eines Insulanerhauses, inmitten des gröhlenden Urbrausens. Jetzt erlebe ich Eisgang und einen Wind, der aus dem Land meiner Großeltern herweht und mich grüßt wie ein alter, sehr frostiger Bekannter.

Die Kälte lässt das Leben langsamer werden. Heute Nachmittag fahren keine Fähren mehr. Ob sie morgen fahren, ist fraglich. Mein Handy, die Nabelschnur zur hektischen Welt der Aufgaben und Verantwortlichkeiten, streikt, der Akku schwächelt – ich kriege die ein oder andere Whatsapp, doch Emails kommen nicht an und gehen nicht raus. Meinen AB kann ich nicht abhören.

Ich bin auf Norderney doppelt kalt gestellt. Und hab gar nix dagegen.

 

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