Schreibend „zurück zu Dir“

„Ich will zurück zu Dir
Und ich geb‘ alles dafür
Ich will zurück zu Dir
Ich steh‘ fast vor deiner Tür
Ich will zurück zu Dir, und dann lange nicht mehr weg …“

singt Xavier Naidoo – aber auch viele andere Songwriter schreiben über diesen tiefen Wunsch nach Verbundenheit mit einem anderen Menschen.

Diese Sehnsucht nach Verbindung zu anderen Menschen, nicht nur zu unserem Partner, unserer Partnerin, ist eine der beiden wichtigsten Triebfedern im Leben, sagt der niederländische Psychologe Hubert Hermans. Er hat eine Methode entwickelt, in der man schreibend und mit Hilfe eines Coaches erkundet, ob und wie der eigene Wunsch nach Verbundenheit mit dem oft widerstreitenden Bedürfnis nach Selbstbestätigung ausbalanciert ist.
Über Hermans Ansatz der Selbstkonfrontation erscheint in Psychologie Heute demnächst ein längerer Artikel – ich informiere Euch rechtzeitig.

Ein sanfterer Ansatz, der dazu dient, die Verbindung mit der wichtigsten Person in unserem Leben zu vertiefen, stammt aus den USA; er hat den komplizierten Namen „Proprioceptive Writing“ (PW), ist aber ganz einfach auszuführen.

Das Propriozeptive Schreiben dauert nur etwa eine halbe Stunde, kann wie eine Meditation wirken, fokussiert den Geist und kann uns neue Energie geben.

Das PW korrespondiert wunderbar mit den Ideen der Poesietherapie (PT), denn beide Ansätze haben zum Ziel: Die eigene innere Stimme finden. In der PT heißt diese Stimme „erfahrungsgesättigte Sprache“, und meint, dass wir ausdrücken können, was wir spüren, erfahren, denken und auch, was wir einmal gespürt, erfahren, gedacht haben. Das gelingt umso besser, je mehr wir unsere unsere fünf Sinne einsetzen.

Wer das übt, ist für Herausforderungen in der Zukunft besonders gut gewappnet, sagt Harvard-Gedächtnisforscher Daniel Schacter. Über diesen überraschenden Zusammenhang von Erinnerung und Problemlöse-Kompetenz werdet Ihr in Psychologie Heute ebenfalls bald mehr erfahren. I will keep you posted.

Innere Stimme oder erfahrungsgesättigte Sprache sind während unserer Sozialisation meist ganz leise geworden und wir müssen uns heute anstrengen, um sie wahrzunehmen.
Dabei erfüllen sie diverse, elementare Aufgaben. Darunter diese: Sie sind die Basis für Selbstsorge und prägen unser Verhältnis zu anderen. Je stärker wir sie hören, desto leichter fällt es uns, eine eigene Wissenschaftssprache zu entwickeln und uns in ihr mit Selbstvertrauen und Leichtigkeit auszudrücken. Grund genug, sich auf Entdeckungsreise zu begeben.

So einfach geht PW:

1. Wir zünden eine Kerze an und legen eine Musik auf, die uns zu uns zurück bringen kann. Die Erfinder der Methode – Linda Trichter Metcalf und Toby Simon – schlagen Barockmusik vor, ich selbst bevorzuge Meeresklänge.

2. Wir stellen einen Timer auf 25 Minuten und beginnen zu schreiben. Dabei nehmen wir die Haltung einer Zuhörerin, eines Zuhörers ein: Das, was wir hören, schreiben wir auf – möglichst auf unliniertes Papier. Keine begrenzenden Linien, keine Karos, sollen uns einschränken. Alles darf, nichts muss.

3. Sobald wir einen Begriff hören und aufschreiben, der uns besonders interessant vorkommt, stellen wir die wichtigste Frage dieses Ansatzes – die „Proprioceptive Question (PQ)“.

Sie lautet: Was meine ich mit …. (hier folgt der Begriff, um den es geht)?

Wenn unser Begriff „frei sein“ ist, erforschen wir zum Beispiel schreibend die Bedeutungen, die „frei sein“ für uns hat. Was genau meinen wir mit „frei sein“? Wann haben wir uns in der Vergangenheit frei gefühlt? Wie war das genau? Wie könnten wir uns wieder so frei fühlen? Welche Chancen und Risiken hat frei sein für uns? usw. usf.

4. Dann hören wir wieder unseren Gedanken zu und schreiben weiter, wir folgen dem Fluss der Worte, die wir hören. Bis zum nächsten interessanten Wort.

Zum Beispiel:
„Was meine ich mit „Struktur“? Ist Struktur das Gegenteil von Freiheit, oder eine Voraussetzung dafür? Welche Struktur habe ich als befreiend erlebt, welche als einengend? …“

Und dann hören wir uns wieder zu und schreiben auf, was wir hören.
Auf diese Weise zentrieren wir uns und kommen uns näher und immer tiefer: Zurück zu Dir, das ist das Ziel dieses Ansatzes.

Nichts anderes meint der Begriff „proprioceptive“. In der Medizin bezeichnet „Propriozeption“ unter anderem die Fähigkeit, die Lage unseres Körpers im Raum zu erfassen. Beim „proprioceptive writing“ geht es dagegen um unsere psychische Lage. Wir machen uns beim Schreiben Aspekte unserer inneren Welt bewusst, über die wir im Alltag hinweg gehen, die aber nichts desto trotz zentral sind.

Tiefer noch als in den Morgenseiten, wie sie Julia Cameron in „Der Weg des Künstlers“ vorstellt, schreiben wir uns in unsere seelische Verfasstheit hinein. Der Grund: wir fragen immer wieder nach, was wir eigentlich sagen wollen. Zweiter Grund: Wir verstärken die Doppelung des Ichs, wenn wir uns selbst zuhören. Diese Aufmerksamkeit für uns selbst, ist eine Fähigkeit, die wir auch bei vielen Meditationen einüben.
Daher wirkt PW meditativ: Hier folgen wir allerdings nicht körperlichen Empfindungen oder den Atembewegungen, sondern unseren inneren Worten. Wir lassen diese Worte nicht wie bei einer Meditation ungeprüft los, sondern geben ihnen einen Raum auf dem Papier. Der Effekt ist, dass wir uns dann umso leichter und – um einige Erkenntnisse reicher – von ihnen lösen können.

Nach 25 Minuten stellen wir die Musik aus und beantworten diese vier Fragen: – – Was habe ich gehört aber nicht aufgeschrieben?
– Wie fühle ich mich jetzt?
– Um welches größere Thema ging es eigentlich beim Schreiben?
– Über welche Themen und Ideen möchte ich demnächst einmal schreiben?

Oft entdecken wir jetzt wiederkehrende Themen und Muster, mit denen wir uns dann – wenn wir wollen – bei jedem Schreiben ein bisschen mehr vertraut machen können. Alles darf, nichts muss.

Dann löschen wir unsere Kerze. So beenden wir das Ritual des propriozeptiven Schreibens.

Diese Wirkung hat das Ritual auf mich: Die Struktur schafft einen sicheren Raum, ein Refugium vom Alltag, einen Möglichkeitsraum. In diesem Raum nehme ich Verbindung zu mir auf. Ich höre mir zu, ich bin für mich da, ich werde ruhig, fühle mich zentriert und entspannt. Ich freue mich jeden Tag auf die Gelegenheit, auf diese Weise zu mir zurück zu kommen.

Euch viel Spaß beim Ausprobieren …

PS: Wer das Propriozeptive Schreiben einmal mit Anleitung und in einer unterstützenden Gruppe ausprobieren möchte, hat dazu am 14.10. und 18.11. ab 18 Uhr im Bremer Schreibstudio eine Gelegenheit.

Das ist die Frage, die uns in diesem Sommercamp besonders beschäftigen wird! Um sie zu beantworten, wollen wir nach Herzenslust fabulieren, fantasieren und Geschichten zu schreiben, die uns unserer Version von Freiheit näher bringen.

Im Sommercamp teile ich deshalb Schreibeinladungen und Imaginationen für drei entspannte Urlaubswochen. Nutze sie, wo immer du möchtest, zu Hause, am Strand, in den Bergen oder anderswo und erlebe jeden Tag ein bisschen deutlicher, wie sich Freiheit anfühlen kann!

Auf in einen wonnevollen Schreibsommer!

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