Schicksalstag

„Es schob sich einfach so dazwischen“, schrieb vor etwa dreißig Jahren die Niederländerin Anja Meulenbelt, die eigentlich gerade ein Fachbuch schreiben wollte. Was sich „dazwischen“ drängte, war, glaube ich, „Schaamte vorbij“ (Die Scham ist vorbei), ein frühes  Memoir, in dem Meulenbelt aus alten Rollen ausbricht und zur öffentlichen Rebellin wird. „Das ist es, was eine richtige Autorin ausmacht“, dachte ich.

„Eine Autorin ist, wer manchmal einfach schreiben und die Stimme erheben muss. Die sagen muss, was sie denkt. Egal, was gerade sonst zu tun ist.“

Der 9.11.2016 ist der Tag, an dem ich mich wie eine „richtige“ Autorin fühle. Auch bei mir drängt sich gerade etwas dazwischen, bei diesem Schreibtreff in der Bibliothek, bei dem ich eigentlich mein Manuskript überarbeiten will.

Vielleicht hat es mit den Zahlen zu tun – 9 und 11 – , vielleicht sind sie ja schuld, dass ich schreiben muss. Die Zahlen markieren ein Schicksalsdatum.

Der 9. November 1938 war der Tag, von dem an Juden in Deutschland nicht mehr nur diskriminiert, sondern systematisch von den Nazis verfolgt und ermordet wurden. Ich erfuhr davon aus Büchern mit schrecklichen Bildern von ausgemergelten Menschen, Bücher, die mein Vater, ein Lehrer, im Arbeitszimmer lagerte. Der Tag, an dem ich die Bücher entdeckte, war mehr als ein Trauertag für mich. Es war ein Tag, an dem mein Weltvertrauen einen Riss bekam.

Mein Vater, 1938 in Czernovitz, Rumänien, geboren, weinte, als ich ihn nach der Pogromnacht fragte. Meine Mutter blieb stumm. Sie hat am 19.11.1938 Geburtstag. Vielleicht liegt es an den Zahlen – 9, 11 – dass an diesem Tag selten Feierstimmung einzog, sondern über den Kerzen und der Torte eine melancholische Schicht lag, der Nebel der Geschichte.

Der 9. November 1989 ist auch der Tag der Maueröffnung, Millionen Menschen haben gefeiert, in West- und Ostdeutschland, in aller Welt. Ich habe alles im Fernsehen gesehen, mich mitgefreut, mitgerissen von der Begeisterung – dabei war mir das Schicksal der Menschen im Osten eher fremd. Kaum Kontakte zur eigenen Familie, auch das eine Folge der Grenze, die nun offen war.

Heute haben wieder Millionen gefeiert, vor allem in den USA – doch viele Europäer, auch viele Amerikaner, haben getrauert, waren bestürzt, manche erschüttert. Der 9.11.2016 ist der Tag, an dem der Winter in Bremen ausbrach (siehe Foto) und an dem ein neuer Winter in die Weltpolitik einzukehren scheint.

Im Radio interviewen bestürzte Reporter bestürzte Fachleute, von denen die meisten sich an die Hoffnung klammern, dass alles nicht so schlimm werden wird. Sie, genauso wie wir alle, suchen nach Erklärungen, nach Interpretationen, nach Strategien. Die erste SMS des Tages, kam aus der Nähe und lautete: „Guten Morgen, liebste Freundin – ich frage mich gerade: ist aufrichtiger Wahnsinn besser als unaufrichtiger?“ Die letzte SMS des Tages kam aus den USA:“I am feeling depressed and very scared. What now?“

Meine Mutter versuchte immer, aus allem das Beste zu machen. Das war ihre Lebensstrategie. Ich bin ihr darin immer gefolgt. An diesem 9. November glaube ich, dass das nicht genügt. Ich glaube: Es ist Zeit, mehr als bisher eine Autorin zu sein, die ihre Stimme erhebt, die gestaltet, wo sie gestalten kann. Denn Gewissheiten können zerbröseln wie Sandstein, wenn wir es zulassen – das zumindest haben die 9. November der Geschichte gezeigt, jeder einzelne von ihnen, im Guten wie im Bösen.

 

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